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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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geöffnete Schiebefenster auf das gegenüberliegende Haus, das mit seinen Feuertreppen und Klimaanlagen genauso aussah wie die Häuser, die ich aus amerikanischen Filmen kannte. Ich schloss die Augen und lauschte. Irgendwo plärrte Budweiser-Werbung aus dem Radio, unten auf der Straße riefen sich zwei Männer etwas zu und lachten, von fern drang diffuses Verkehrsrauschen herüber, und gerade als ich die Polizeisirene vermissen wollte, heulte eine auf. Was für ein Klischee, dachte ich. Sogar die Geräuschkulisse stimmt. So döste ich eine Weile vor mich hin, und als die Welt da draußen in meinem Kopf zu verschwimmen begann, klingelte das Telefon. Der Anrufer war hartnäckig, und das Läuten klang irgendwann fast vorwurfsvoll, doch ich ließ es klingeln. Nachdem das Telefon verstummt war, stand ich auf, zog mich an, nahm den Schlüssel, den Matthew mir hingelegt hatte, und verließ die Wohnung, um mich ein bisschen umzuschauen. Eigentlich war ich hundemüde, doch jetzt im Bett liegen zu bleiben schien mir dekadent und falsch.
    Matthew hatte mir von seiner Gegend schon viel erzählt, und als ich in dem kleinen Deli an der Ecke ein Päckchen Zigaretten und eine Cola kaufte, erkannte ich sofort den schielenden Chinesen hinter der Kasse. »Er hat mir mal verraten, dass er einen Zwillingsbruder in Massachusetts habe, mit dem er telepathisch verbunden sei. Wenn er pinkeln muss, muss sein Bruder auch, und wenn er schlecht träumt, hat sein Bruder denselben Traum.« Ich versuchte das Gesicht des Chinesen zu ergründen, um einen Hinweis auf seine übersinnlichen Fähigkeiten zu finden, doch der Mann grinste nur dümmlich.
    Ich verließ den Laden, lief die Straße hinunter und entdeckte die Wäscherei, über der Matthew gewohnt hatte, bevor er in seine jetzige Wohnung gezogen war. Die Geschichte dazu war gruselig: Sein Zimmer führte zum Hinterhof, auf dem man knöcheltief im Dreck versank, weil die Puerto-Ricaner immer ihren Müll aus dem Fenster schmissen. Als er eines Tages aus dem Fenster schaute, um zu sehen, wie das Wetter war, sah er zwei menschliche Füße unter einer Plane. »Ich dachte, entweder er schläft oder er ist tot. Aber er liegt nicht im Sterben. Vielleicht hat er keinen Platz zum Schlafen gefunden, doch wahrscheinlich ist er tot. Ich war schon spät dran und musste zur Arbeit, also ging ich zur Arbeit, und als ich wiederkam, waren die Füße weg. In jeder anderen Stadt, außer vielleicht in Kalkutta oder so, würdest du wahrscheinlich schreien und dann die Polizei rufen oder erst die Polizei rufen und dann schreien, was weiß ich.« Ich beschloss, mir den Hinterhof lieber nicht anzusehen und ging weiter. Ich lief zum Park am Ende der Straße und setzte mich zu den vielen Leuten auf die Stufen des trockenen Springbrunnens, in dessen Mitte ein riesiger schwarzer Sänger zur Gitarre »In the Midnight Hour« sang. Die Leute warfen ihm Geld in den Gitarrenkoffer und klatschten in seinem Rhythmus. Ich zog meinen kleinen Rekorder aus dem Rucksack und schaltete ihn ein – vielleicht würde ich das später fürs Radio gebrauchen können, wer weiß. Halbwüchsige sprangen mit Skateboards über Papierkörbe, die sie hintereinander gestellt hatten, junge Frauen saßen auf Bänken und hielten ihre Gesichter in die frühe Abendsonne, und alte Männer spielten Schach. Ich packte meinen Rekorder wieder ein, und nachdem ich einen Blick in den Stadtplan geworfen hatte, lief ich weiter nach Osten bis zum Broadway. Hier war es laut und voll und berstend bunt und von allem zu viel. Nach fünfzig Metern schlug ich mich wieder in eine Seitenstraße und lief zurück.
     
    »Kann ich helfen?«, sagte der Typ, der mir die Wohnungstür öffnete, nachdem ich mich eine gefühlte Ewigkeit vergeblich am Schloss vergangen hatte. Es war Mike, der Mitbewohner von Matthew. Ich wurde rot. Er wusste offenbar sofort, wen er vor sich hatte, und feixte: »Hier läuft offenbar einiges anders als bei euch im Osten, oder?« Er zeigte mir, wie man die Tür öffnete; ich hatte den Schlüssel in die falsche Richtung gedreht, typisch.
    »Ich mach gerade Kaffee, willst du auch?« Ich wollte.
    Dann saßen wir in dem kleinen Raum, der Matthew und ihm als gemeinsames Wohnzimmer diente, tranken Kaffee, redeten, und Mike sagte als Erster die Worte, die ich in den nächsten Wochen noch oft hören sollte: »East Germany. Amazing!«
    »Ihr müsst doch glücklich sein, da drüben.«
    Vor kurzem erst hatte mein Land gewählt, und die Mehrheit hatte sich für

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