Ab jetzt ist Ruhe
erschien der zweite Kurt als kompletter Gegenentwurf zu seiner Bühnenversion. Während der eine fast exzentrisch wirkte, wenn er seine wilden Thesen lustig ins Volk peitschte, war der andere zurückhaltend, in sich gekehrt und redete manchmal stundenlang kein Wort. Während der eine mich permanent überforderte, verliebte ich mich in den anderen. Allerdings währte die Liebe auch diesmal nicht lang. Kurt hatte vor mir eine Frau geliebt, von der er nicht lassen konnte. Sie trennten sich, kamen wieder zusammen und trennten sich wieder. Dann kam er zu mir, und ein halbes Jahr später traf er sich wieder mit ihr. »Nur so«, sagte er, doch ich wusste, dass das nicht stimmte. Ich spielte im Radio die traurigste Musik, die ich finden konnte, und als hätte sie nur darauf gewartet, zog auch meine fahle Gefährtin wieder bei mir ein. Sie machte es sich bequem in meinem Kopf, labte sich an meinem Liebeskummer und stillte ihre Gier an meinem Selbstmitleid, bis ich eines Tages feststellte, dass ich schwanger war.
»Ich bin schwanger«, sagte ich zu ihr.
»Was willst du mit einem Kind, du bist allein.«
»Na und, ich schaff das schon.«
»Mit deinem Radio geht’s zu Ende, und dann bist du arbeitslos.«
»Ja, vielleicht.«
»Nicht vielleicht. Dann bist du allein und arbeitslos.«
»Ja, du hast recht.«
»Na also. Gib mir was zu essen.«
»Das geht nicht, ich bin schwanger.«
»Mach das Kind weg, dann bist du nicht mehr schwanger, und alles wird gut.«
»Ich werde vielleicht nie wieder ein Kind haben.«
»Egal, du hast doch mich. Jetzt gib mir endlich was zu essen.«
Sie nagte und zehrte und zerrte an mir, und fast hätte sie gewonnen, wäre ich nicht ins Kaufhaus gegangen, um ein Geburtstagsgeschenk für Katjas kleine Tochter zu kaufen. Auch meine schöne wilde Freundin hatte inzwischen geheiratet und wohnte mit Mann und Kind in einem der hohen Stalinbauten an der Karl-Marx-Allee.
Als ich ratlos zwischen den vollgestopften und schreiend bunten Regalen umherirrte, fiel mir ein Bär ins Auge, der auf einem kleinen Schemel hockte und schwermütig auf den Puppenteller blickte, der vor ihm auf dem Tisch stand. Außer ihm saßen drei Puppen mit langen Haaren und ausdruckslosen Gesichtern um den Tisch. Der Bär sah aus, als fühle er sich fehl am Platz und als würde er alles darum geben, von hier verschwinden zu können. Ich hob ihn von seinem Stuhl und schaute ihn an. Er war nicht nur deprimiert, er sah auch deprimierend aus. Sein linkes Ohr war abgeknickt, und am Hinterkopf fehlte ihm ein Stückchen Fell. Ich suchte nach einem Preisschild, doch er hatte keins.
»Der gehört zur Deko«, sagte die dauergewellte Verkäuferin, die plötzlich neben mir stand. »Der ist unverkäuflich.«
»Warum denn?«
»Ausschuss.«
»Ich nehme ihn trotzdem.«
»Er gehört aber zur Deko.«
»Sie können doch einen anderen Bären da hinsetzen.«
»Da muss ich erst den Abteilungsleiter fragen.«
Sie verschwand. Ich auch. Mit dem Bären. Ich wusste jetzt, was ich zu tun hatte, und für Katjas Kind würde ich woanders auch noch ein Geschenk finden. Als ich nach Hause kam, war meine fahle Gefährtin verschwunden.
Ein paar Wochen nachdem ich mich entschlossen hatte, das Kind zu behalten, war klar, dass es mit dem Radio zu Ende ging und ich bald arbeitslos sein würde. Und als wäre das noch nicht genug, teilte mir mein Vermieter mit, dass er meine Wohnung modernisieren und danach die Miete erhöhen werde. Mir rutschte das Herz in die Hose – für einen Augenblick bereute ich meine Entscheidung, die Sache mit dem Kind allein durchziehen zu wollen. Doch es war alles nur halb so wild. Während in meiner Wohnung gebaut wurde, wohnte ich bei Katja, und als ich meine Füße nicht mehr sehen konnte, bekam ich das Angebot, freiberuflich für einen anderen Radiosender zu arbeiten. Alles würde gut werden, und als das kleine Mädchen bei mir einzog, war alles gut.
»Sie ist schön und klug«, sagte Kurt. »Genau wie ich.«
»Sie hat meine Nase«, sagte mein jüngster Bruder. »Eine gute Nase.«
»Sie ist dein Kind«, sagte mein ältester Bruder. »Du hast es gut.«
Zwölf
A ls meine Tochter ein Jahr alt wurde und aufstand, um zu laufen, fiel mein jüngster Bruder hin und blieb liegen. Er nannte es Delirium infantilis, doch die Ärzte erklärten, er habe Glück gehabt und dass er sofort mit dem Trinken aufhören müsse, sonst gebe es kein Morgen. »Kein Morgen ist scheiße«, sagte mein Bruder und änderte sein Leben. Er stand früh auf,
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