Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
Vom Netzwerk:
ich fuhren noch sehr oft zusammen Paternoster. Ich liebte es, und für eine Weile bildete ich mir ein, auch Frank zu lieben. Doch das sollte er nie erfahren, denn jetzt regnete es, und ich stand am Möbelwagen, der mich von all dem wegbringen sollte. Es wäre schön gewesen, hätte da plötzlich ein Schild gehangen mit der Aufschrift »Weiterfahrt lebensgefährlich«. Doch es gab kein Schild.

Vier
    I ch mochte unser neues Haus nicht. Mit seinen vier Etagen erschien es mir, verglichen mit unserem alten, das zehn Stockwerke hatte, winzig klein und eng. Außerdem stank es immer nach Katzenpisse. Ich habe das dazugehörige Tier nie gesehen, doch ich stellte es mir über die Maßen fett und hässlich vor.
    Ich mochte auch unsere neue Wohnung nicht. Sie roch fremd und seltsam nach dem grauen Kunststoffboden, mit dem sie ausgelegt war. Mein Vater hatte neue Möbel gekauft. Im Wohnzimmer stand eine dunkelbraune, glänzende Schrankwand und gegenüber eine neue Couch mit zwei riesigen Sesseln. Außer unserem Fernseher gab es hier nichts, was an unser altes Wohnzimmer erinnerte. Es war furchtbar.
    Meine Mutter hatte die Wohnung in diesem Zustand offenbar schon gesehen, denn sie ging mit zur Schau gestellter Gleichgültigkeit durch die Räume. Es gab ein Schlafzimmer, in dem ich dann doch Teile unseres alten Lebens wiederentdeckte. Das Bett, die alte Kommode, einen Kleiderschrank.
    Mein Bruder bezog das kleinste Zimmer der Wohnung. Und dort standen sie, die alten Regale aus unserem Wohnzimmer. Ich war erleichtert und gleichzeitig neidisch, denn eigentlich hätte ich gern dieses Zimmer gehabt. Es war klein und gemütlich. Meins war viel zu groß für mich, und obwohl meine alten Kinderzimmermöbel drinstanden, fühlte ich mich dort verloren.
    Ich fürchtete mich vor dem ersten Schultag. Ich kannte niemanden, und der ungewohnte breite sächsische Dialekt der Leute hier verstärkte mein Fremdheitsgefühl. Es war nicht weit bis zu meiner neuen Schule. Man konnte sie von unserer Wohnung aus sehen: ein heller Neubau, der gar nicht mal so unfreundlich aussah im Vergleich zu meiner alten Schule, die schon Jahrzehnte keinen neuen Anstrich mehr gesehen hatte.
    »Binde dir die Haare zusammen«, sagte meine Mutter. »Das sieht ordentlicher aus. Und versuche, nicht zu sehr zu berlinern – das mögen sie hier nicht.« Meine Mutter konnte es nicht leiden, wenn wir berlinerten. Doch sie sagte diesen Satz mit einem fast verschwörerischen Unterton.
    Ich lief langsam an meinem ersten Schultag. Die anderen Kinder überholten mich. Manche schauten sich um und tuschelten. Ich war die Neue.
    Am Eingang der Schule stand der Hausmeister – ein dünnes kleines Männchen, dem man nie zugetraut hätte, auch nur einen einzigen Stuhl anzuheben, ohne dabei zusammenzubrechen. Ich fragte ihn nach dem Lehrerzimmer. Er musterte mich misstrauisch. »Du bist wohl neu?« Ich nickte. »Hausschuhe dabei?« Ich verstand zwar seine Worte, doch den Sinn der Frage nicht, also schwieg ich verwirrt. »In der Schule werden Hausschuhe angezogen«, herrschte er mich an. Er hatte eine Fahne. »Im Keller sind die Regale. Wenn du keine Hausschuhe dabeihast, musst du barfuß gehen.« Ich nickte, ging an ihm vorbei, und weil er mir hinterherstarrte, zog ich meine Schuhe aus. Auf Strümpfen irrte ich durch das fremde Gebäude, dessen Gänge sich langsam leerten. Schließlich fand ich das Lehrerzimmer und auch meine neue Klassenlehrerin – eine hübsche, junge Frau, die sich mir lächelnd als Frau Reiter vorstellte, mich in meine neue Klasse begleitete und mir einen Platz neben einem Mädchen mit dicker Brille und roten Kirsch-Zopfhaltern zuwies.
    In der Pause wurde ich von ein paar Mädchen umringt: »Du kommst aus Berlin?« Ich hatte während der gesamten ersten Stunde kein Wort gesagt, und auch die Lehrerin hatte mich nur mit meinem Namen vorgestellt. Dennoch schien sich die Information über meine Herkunft in kürzester Zeit herumgesprochen zu haben.
    »Ja.«
    »Kennst du den Alexanderplatz?«
    »Da hab ich gewohnt.«
    »Niemals!«
    »Doch.«
    Ich hatte keine Ahnung, warum sie diese Information so irritierte, und sollte erst später lernen, dass für die meisten Leute hier Berlin ein Ort war, auf den sie mit sehnsuchtsvollem Neid und schmallippiger Missgunst schauten wie auf eine ferne Oase in der Wüste. Ein Mädchen mit langem, dunklem Pferdeschwanz, das offenbar so etwas wie die Anführerin war, gab den anderen mit einer Kopfbewegung ein Zeichen, und sie ließen mich

Weitere Kostenlose Bücher