Ab jetzt ist Ruhe
allein. Ich war erleichtert. Meine Banknachbarin blieb neben mir sitzen. »Ich glaube dir«, sagte sie und wurde meine beste Freundin.
»Du sollst in der Schule Hausschuhe tragen?« Meine Mutter war fassungslos. »Das ist demütigend!« Ich glaube, im Grunde war es ihr egal, ob ich Hausschuhe tragen musste oder nicht. Sie war dankbar für jedes Argument, das man ihr lieferte, um diese Stadt noch hassenswerter zu finden. Doch sie kaufte mir noch am selben Tag Hausschuhe, und am nächsten Morgen ging ich mit den anderen in den Keller und stellte meine Straßenschuhe ins Regal.
Der Keller war dunkel, eng und muffig, und ich verstand schnell, dass man gut daran tat, vor den anderen dort zu sein, weil das Gedränge und der Lärm da unten kaum auszuhalten waren. Außerdem entging man so den Händen der schlimmen Jungs, die uns Mädchen zwischen die Beine oder an die Brust fassten, während wir uns bückten, um die Schuhe zu wechseln. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Mädchen schon eine Brust hatten oder noch nicht. So wie ich.
Ich lebte mich ein und gab mir Mühe, nicht aufzufallen. Das heißt, ich musste mir gar keine Mühe geben, da ich ohnehin nicht auffiel. Weder äußerlich noch durch meine Leistungen. Ich war in jeder Hinsicht unscheinbar und passte damit gut zum Durchschnitt der Klasse. Dass ich aus Berlin kam, hatten die anderen bald vergessen. Es war kein Thema mehr.
Sogar meine Sprache veränderte sich schleichend. Ich übernahm zunehmend sächsische Floskeln und schob beim Sprechen auch schon manchmal den Unterkiefer nach vorn, so dass die Vokale kaum noch klar und offen meinen Mund verließen. Ein Prozess, den meine Mutter mit großem Unbehagen beobachtete und den sie auf ihre sehr eigene Weise zu stoppen wusste. Denn noch mehr als das Berlinern hasste sie den breiten, unförmigen Dialekt, der hier gesprochen wurde. »Du stellst dich jetzt zehn Minuten vor den Spiegel und sprichst Hochdeutsch!« Eine sehr wirkungsvolle Methode – irgendwann war die Gefahr, dass das Sächsische komplett von meiner Sprache Besitz ergriff, gebannt. Für immer.
Ich verließ die Neubausiedlung, in der wir jetzt lebten, kaum. Im Gegensatz zu meinem Bruder. Er war inzwischen sechzehn und ging auf eine Erweiterte Oberschule in der Stadt. »In der Stadt« – das sagte man, wenn man hier draußen wohnte. Man fuhr zehn Minuten mit dem Bus, dann war man da. Doch dort gab es auch nichts zu sehen, die Stadt war hässlich. Dennoch beneidete ich meinen Bruder darum, jeden Tag von hier wegzukönnen. Ich stellte mir sein Leben interessant und bunt und abenteuerlich vor. Und das war es sicher auch, verglichen mit meinem. Er war plötzlich so erwachsen – wir stritten uns kaum noch. Stattdessen half er mir bei den Hausaufgaben, und ich bewunderte und beneidete ihn darum, schon so groß zu sein. Ich liebte die laute Musik, die aus seinem Zimmer drang. Er hörte Jimi Hendrix, Janis Joplin und die Stones und roch nach Zigaretten, wenn er nach Hause kam. Wenn ich am Wochenende in der Badewanne saß, setzte er sich manchmal zu mir, und wir redeten. Ich weiß nicht mehr, worüber, aber es war schön.
Er hatte eine Gitarre und brachte mir ein paar Harmonien bei. Wenn ich allein zu Hause war, ging ich manchmal in sein Zimmer, wo ich seine Platten auflegte. Ich zog den Zopfgummi raus, verwuschelte meine Haare, nahm die Gitarre, war Janis Joplin und sang »Me and Bobby McGee«. Ich wusste nicht, dass sie gar nicht Gitarre spielte, und was die Zeile »Freedom ’s just another word for nothing left to lose« bedeutete, war mir egal.
Mein Leben in der neuen Stadt tröpfelte so dahin. Ich gewöhnte mich an die Gegend und die Leute, und irgendwann fand ich das alles auch nicht mehr so schrecklich wie am Anfang. Die Tage folgten einem gleichförmigen Rhythmus. Das hatten sie vorher auch schon getan, doch hier in dieser viel zu rechteckigen Neubausiedlung mit ihren viel zu rechteckigen Häusern, die an viel zu geraden Straßen standen, wirkte auch das Leben irgendwie rechteckig und viel zu gerade.
Wenn ich nachmittags aus der Schule kam, knallte ich die Mappe in die Ecke und mich vor den Fernseher. Meine Eltern hatten es mir verboten, deswegen musste ich es tun. Für den Empfang des Westfernsehens hatte mein Vater ein Spezialgerät, das er tagsüber sorgsam in seinem Arbeitszimmer verschloss, damit ich nicht auf dumme Gedanken kam. Also zog ich mir alles rein, was das sozialistische Fernsehen um diese Zeit zu bieten hatte: Sprachkurse,
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