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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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Gymnastiksendungen, Konzerte mit ungarischen Kinderchören und polnische Partisanenfilme. Vor dem Fernseher erledigte ich notdürftig meine Hausaufgaben. Die Nachmittage waren wie Blei.
    Manchmal kam meine Freundin vorbei, oder wir lungerten bei ihr zu Hause herum. Sie lebte allein mit ihrer Mutter und einem grünen Wellensittich, der »Guter Bubi« sagen konnte. Darüber hinaus hatte das Tier keinen Unterhaltungswert. Dennoch wünschte ich mir auch so einen.
    Mein Vater hatte ein schlechtes Gewissen, weil er uns hierherverschleppt hatte, also machte er uns Geschenke. Einfach so, noch vor Weihnachten. Mein Bruder bekam ein tschechisches Tonbandgerät und ich einen blauen Wellensittich, den ich Rudi nannte. Meine Mutter hatte alles getan, um meinen Vater daran zu hindern, mir diesen Vogel zu schenken – ohne Erfolg. Rudi zog bei mir ein, und meine Mutter betrat mein Zimmer nur noch, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Bald schon beneidete ich sie um dieses Privileg. Doch ich wohnte hier und war dem Vogel ausgeliefert. Rudi war eine lärmende Nervensäge, und wenn er Freigang hatte, schiss er die Regale voll und knabberte meine Bücher und Hefte an. Ich bereute meinen Wunsch zutiefst, so ein Tier besitzen zu wollen, und weihte meinen Bruder ein.
    »Lass ihn einfach nicht mehr raus«, empfahl er mir. »Oder lass ihn ganz raus.« Ich verstand nicht.
    »Käfigtür zu oder Fenster auf. Ist doch ganz einfach.«
    Da ich irgendwann mal gehört hatte, dass Wellensittiche draußen nicht lange überleben würden, ließ ich ihn nicht mehr raus. Doch das war ein Fehler. Rudi wurde von Tag zu Tag wütender und begann, wie ein Besessener mit seinem Schnabel an den Gitterstäben zu zerren, während er abscheuliche Krächzlaute von sich gab. Irgendwann gab er auf, wurde krank und starb.
    »Er hatte bestimmt Depressionen«, sagte mein Bruder beim Abendbrot. »Das passiert, wenn man Leute zu lange einsperrt.«
    »Unsinn!«, herrschte mein Vater ihn an. Meine Mutter schwieg. Ich auch. Damit war das Thema Rudi erledigt. Es war meine Mutter, die ihn und seinen Käfig verschwinden ließ. Ich fühlte mich schuldig – jedoch nicht an Rudis Tod, sondern dafür, dass ich nicht traurig darüber war.
     
    So verging der Herbst in der neuen Stadt. Ihm folgte der Winter, und mit ihm kam Weihnachten. Dieses Fest wurde in unserer Familie für gewöhnlich ohne großen Aufwand gefeiert. Wir hatten einen Weihnachtsbaum mit elektrischer Beleuchtung, behangen mit roten und grünen Kugeln und ein bisschen Lametta, und nach der Bescherung gab es Würstchen mit Kartoffelsalat. Auf das Absingen von Liedern und Aufsagen von Gedichten wurde ebenso verzichtet wie auf die Anwesenheit eines Weihnachtsmannes. Trotzdem war es irgendwie schön. Nachmittags liefen Märchenfilme im Fernsehen, und es roch gut. Außerdem kamen am nächsten Tag manchmal noch meine großen Brüder vorbei. Doch dieses erste Weihnachtsfest in der fremden Stadt war anders. Ich spürte schon am Vormittag, dass irgendetwas faul war. Oder besser: Ich hörte es. Aus der Küche drang schlechtgelauntes Tellerklappern, Töpfe lärmten auf dem Herd, und das Besteck ließ sich beleidigt in den Besteckkasten fallen. Meine Mutter war sauer.
    Ich steckte vorsichtig meinen Kopf durch die Küchentür: »Kann ich dir was helfen?« Meine Mutter funkelte mich an. »Ja. Schleich dich!« – Seit wir hier lebten, benutzte sie immer öfter wienerische Floskeln. Ich verzog mich in mein Zimmer und war froh, dass mein Bruder nebenan die unbehaglichen Geräusche aus der Küche mit lauter, wütender Musik übertönte.
    Ich holte die Weihnachtsgeschenke für meine Eltern aus dem Schrank. Meinem Vater hatte ich im Werkunterricht ein kleines Regal gezimmert, dessen Bestimmung selbst mir nicht ganz klar war. Es war schief, und ich hatte dafür eine Vier bekommen. Vermutlich würde es sofort in sich zusammenfallen, wenn man den Versuch unternahm, irgendetwas daraufzustellen.
    Meine Mutter hatte sich einen kleinen Spiegel gewünscht, den sie über die Kommode im Schlafzimmer hängen könnte. Ich hatte mein Taschengeld zusammengekratzt und war ins Kaufhaus gegangen, wo ich etwas fand, das wie ein Spiegel aussah. Es war ungefähr so groß wie ein Zeichenblock und hatte auf der Spiegelfläche interessante Gravuren. Ich war mir sicher, dass sie sich darüber freuen würde.
    Ich wickelte die Geschenke in Weihnachtspapier und verstaute sie wieder im Schrank. Dann ging ich ins Wohnzimmer und guckte Kinderfernsehen, bis mein

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