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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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Kerzen ihren Job erledigten. Dann ging alles sehr schnell. Meinem Bruder gelang es, den brennenden Baum auf den Balkon zu schleifen und dort zu löschen.
    Das Desaster hinterließ ein paar hässliche Brand- und Wachsflecken auf dem neuen Teppich und einen milden, ja fast zufriedenen Ausdruck im Gesicht meiner Mutter. Nachdem wir die Spuren der Katastrophe beseitigt hatten, schaute sie auf die kümmerlichen Überreste des Baumes, der wie ein stummer Vorwurf an der Balkonbrüstung lehnte, und sagte trocken: »Ich kann mir nicht helfen, aber abgebrannte Weihnachtsbäume haben Charakter!«
     
    Weihnachten ging vorbei und das Jahr auch. Nur der Winter zog sich kalt und grau in die Länge und machte die Nachmittage noch zäher und öder, als sie ohnehin schon waren. Ich hatte zu Weihnachten das Klappfahrrad bekommen, das ich mir gewünscht hatte. Doch ich durfte es noch nicht benutzen. Nagelneu und hellblau und glänzend stand es in meinem Zimmer wie eine Provokation. »Da haben sich die Alten ja mal wieder selbst übertroffen«, frotzelte mein Bruder und klärte mich darüber auf, dass Klappfahrräder spießig seien. »Man kann sie zusammenklappen und in den spießigen Kofferraum seines spießigen Autos packen und damit auf seine spießige Datsche fahren.« Ich verschwieg ihm, dass ich mir dieses Rad gewünscht hatte. Die meisten Mädchen in meiner Klasse hatten so eins, und ich wollte so sein wie sie. Ob das spießig war oder nicht, war mir egal.
    Es wurde Frühling, und ich fuhr mit meinem neuen Rad durch die geraden Straßen der Neubausiedlung. Ich war nicht unglücklich. Für die Schule tat ich nicht mehr als nötig, die Leute in meiner Klasse akzeptierten mich, und mein Leben war normal und unkompliziert.
     
    »Du solltest ein Hobby haben«, sagte mein Vater. »Vielleicht was mit Sport.« Hätte er mich gekannt, hätte er gewusst, dass Sport das Letzte war, das als Hobby in Frage kam. Ich hatte es in der zweiten Klasse mal mit Schwimmen versucht. Doch schon nach zwei Monaten flog ich aus dem Sportclub wieder raus: zu klein, kein Talent, kein Ehrgeiz. Ich war nicht traurig darüber.
    »Wie wär’s mit Eiskunstlauf?«, fragte meine Mutter, die sich mit meinem Vater offensichtlich verbündet hatte. »Ich habe mich erkundigt, es gibt hier in der Nähe einen Club. Da trainieren sogar die Weltmeister!« Damit hatten sie mich. Ich liebte Eiskunstlauf – das war kein Sport, das war schön. Ich bewunderte die anmutigen Tänzerinnen im Fernsehen und wünschte mir, an ihrer Stelle zu sein.
    Meine Mutter ging mit mir in die Eissporthalle und meldete mich an. Nach vier Wochen hatte ich vom Training die Nase voll: kein Talent, kein Ehrgeiz, keine Lust. Ich ging nicht mehr hin. Stattdessen fuhr ich mit dem Fahrrad durch die Gegend, bis ich ein parkendes Auto übersah und mit Gehirnerschütterung, einem verstauchten Knöchel und ein paar Prellungen ins Krankenhaus kam.
    Dort lernte ich Finke kennen. Finke hieß eigentlich Karsten Fink, doch alle nannten ihn Finke, selbst die Ärzte und Schwestern. Finke war ein großer, kräftiger Junge, hatte strohblondes Haar und sah ein bisschen aus wie die Recken in russischen Märchenfilmen. Er war schon dreizehn und lag bereits seit drei Wochen auf der Kinderstation. Er hatte sich das rechte Bein und ein paar Rippen gebrochen, und jedem, der neu eingeliefert wurde, erzählte er im Spielzimmer die Geschichte dazu. Finke konnte phantastisch erzählen, und sein Bericht wurde niemals langweilig, weil er ihm immer neue Details hinzufügte. Er tat das wohl, um jene unter uns, die die Geschichte schon gehört hatten, nicht zu langweilen.
    Er war mit seinen Skiern in den tschechischen Bergen verunglückt, wo er mit seinen Eltern die Winterferien verbrachte. Das war die realistische Rahmenhandlung, die er mit solch dramatischen und halsbrecherischen Szenen füllte, wie es sie nicht mal im spannendsten Abenteuerfilm gab. Außerdem konnte er Witze erzählen wie kein anderer. Die Witze waren nicht besonders komisch, doch er erzählte sie so, dass uns die Bäuche vom Lachen wehtaten. Finke war toll. So toll, dass ich fast traurig war, als ich nach zwei Wochen wieder nach Hause musste.
     
    »Ey du!« Ich stand in der Schlange beim Bäcker und kramte gerade mein Geld aus der Tasche, als mir jemand auf die Schulter tippte. Ich drehte mich um. Finke! Ich spürte, wie ich rot wurde.
    »Wie geht’s denn so?« Er grinste breit. Ich grinste unsicher zurück. Finke hatte mich im Krankenhaus nie beachtet. Ich

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