Ab jetzt ist Ruhe
sollte den Hinterhof in Potsdam niemals verlassen.
Ich liebte es, zu Oma Potsdam zu fahren. Ich durfte aufbleiben, so lange ich wollte, ich durfte Westfernsehen gucken und dabei meiner Oma Zigaretten drehen. Sie besaß eine silberne Tabakdose und eine Zigarettenspitze aus Elfenbein, an der sie elegant wie ein Filmstar zog, während sie mir Geschichten von früher erzählte. Geschichten aus einer Welt, die mit der, in der sie jetzt lebte, nicht das Geringste gemein hatte. Es war die Welt einer wohlhabenden jüdischen Fabrikantenfamilie, die aus einem Kaff bei Breslau nach Berlin gekommen war. Ihr Vater war eines von acht Kindern, hatte einen Zwillingsbruder und starb mit nur einundfünfzig Jahren. »An gebrochenem Herzen«, wie meine Oma immer wieder seufzend und nicht ohne eine gewisse Dramatik betonte. Über ihre strenge Mutter sprach sie kaum.
Sie zeigte mir Fotos von ihrem Bruder, der im Ersten Weltkrieg in die afrikanischen Kolonien ging und dort an Gelbfieber starb. Sie zeigte mir ihre schöne Schwester – eine Sängerin und Tänzerin, die von den Frauen hochrangiger Nazis protegiert wurde, bis man sie dann doch nicht mehr so toll fand und nach Theresienstadt deportierte.
Sie erzählte mir von ihren drei Ehemännern, von denen einer schlimmer gewesen sei als der andere. »Sie haben mich alle betrogen«, seufzte meine Oma. »Aber sie sahen blendend aus!«
Sie zeigte mir das Foto eines jungen Mannes, der meinem Vater zum Verwechseln ähnlich sah. Er trug die Uniform eines Offiziers im Ersten Weltkrieg und lächelte charmant in die Kamera. »Ein schöner Nichtsnutz, ein Schürzenjäger. Er ist leider wahnsinnig geworden.« Bevor das geschah, ließ sie sich von ihm scheiden, um kurz darauf einen Filmkritiker zu heiraten, der ihr das Berlin der zwanziger Jahre zu Füßen legte. Allerdings nur so lange, bis er die Füße anderer Frauen verlockender fand.
Folgte Ehemann Nummer drei: ein Biologe, Kunstliebhaber und Übersetzer. Er war zwanzig Jahre älter als meine Oma und holte sie in das kleine oberbayerische Dorf, in dem er lebte.
»Sie haben sich das Maul zerrissen, wenn wir die Dorfstraße entlangliefen«, erzählte sie mir und zog an ihrer elfenbeinernen Zigarettenspitze. »›Die geschiedene Jüdin‹ haben sie mich genannt. Aber ich war besser als dieses Pack!« Sie stieß den Rauch mit einer Verachtung aus, als befände sich das Dorf vollzählig mit uns im Raum.
Sie war besser und bewies es den Leuten, indem sie katholischer wurde als sie. Sie machte die Religion zu ihrem neuen Hobby. Doch was sie anfangs noch aus einer Mischung aus Trotz, Langeweile und Neugier tat, wurde mehr und mehr zum Lebensinhalt. Irgendwann gab sie nicht nur vor zu glauben – sie glaubte tatsächlich.
Ihren Sohn, der später mein Vater werden sollte, schickte sie auf ein katholisches Internat in den Bergen. Dort wurde er ein fleißiger Ministrant, und wäre er nicht beschnitten gewesen, hätte er wohl bald gänzlich vergessen, dass er Jude war. Er lernte, was ein guter Katholik zu lernen hatte. Pater Richard lehrte ihn Latein, bei Pater Rupert beichtete er, und Pater Martin erklärte ihm die Welt. Allerdings auf eine Weise, die der Gestapo nicht gefiel. Jetzt war er Antifaschist und Jude – das ging gar nicht, er musste weg. Aus dem Internat und aus dem Land. Ein jüdischer Kindertransport brachte ihn nach England.
Seine Mutter durfte bleiben. Sie war durch die Verbindung mit einem nichtjüdischen Mann noch geschützt. Später versteckte er sie, und als der Krieg vorbei war, wurde die Ehe wegen des wiederholten Vorwurfs der Schürzenjägerei geschieden. Meine Oma lebte noch zwei Jahre im Gästezimmer ihres Ex-Mannes und seiner jungen Frau, und als mein Vater aus dem Exil zurückgekehrt war, fand er für sie die kleine Wohnung in Potsdam, in der sie auch jetzt noch lebte.
Meine Oma liebte den Schein und die Welt der schönen Dinge. Sie verlor sich gern in der Vergangenheit, die sie wie einen Schatz in ihrem alten Sekretär verbarg. Manchmal gab sie mir den Schlüssel und erlaubte mir, in die vielen kleinen Schubladen zu schauen, in denen sie die Insignien eines anderen Lebens aufbewahrte.
Sie lebte in der Vergangenheit, ohne zu vergessen, dass ich ein Teil ihrer Gegenwart war. Und diesen Job machte sie gut. Sie ließ mich in ihrem Bett unter dem hölzernen Kreuz schlafen und nächtigte selbst auf der unbequemen Couch im Wohnzimmer. Wenn ich morgens aufwachte, kroch ich zu ihr unter die Decke, und sie las mir mit
Weitere Kostenlose Bücher