Ab jetzt ist Ruhe
Freitagabend im gleichen Zustand wieder abgeholt. Dazwischen galt meine ganze Aufmerksamkeit vermutlich der Aufnahme und dem Ausscheiden von Nahrung.
Auf die Wochenkrippe folgte der Kindergarten. Und für den Kindergarten hatte ich einen Fahrer, der mich dorthin brachte, nachdem er meinen Vater bei der Arbeit abgesetzt hatte. Das Auto war ein schwarz glänzender Tatra, und der Fahrer hieß Herr Wolf. Herr Wolf war ein großer, breitschultriger Mann und hatte immer nasse Haare, die er an jeder roten Ampel mit einem braunen Kamm akkurat nach hinten kämmte, so dass sie am Hinterkopf eine Art Scheitel bildeten.
Herr Wolf brachte mich zu der kleinen pudelköpfigen Tante Ritter und der strengen, hässlich bebrillten Tante Liebig. Die beiden ergänzten sich vortrefflich. Was das weiche Herz der einen durchgehen ließ, rückte die andere mit mahnender Stimme und fester Hand wieder zurecht.
Einmal gab es zum Mittag Sülze, also Fleischfetzen mit Fettaugen in Aspik. Tante Ritter ging um den Tisch herum und versuchte uns das eklige Essen irgendwie schmackhaft zu machen. »Guck mal, das da hat ein Gesicht, es lacht dich an. Es will gegessen werden, mmmh.« Die meisten machten gute Miene zum bösen Spiel und schoben sich den Fraß in homöopathischen Dosen irgendwie rein. Wenn Tante Liebig hingegen ihre Runde drehte, waren große Gabeln angesagt. Auch bei mir. Sie beugte sich mit ihren schweren Brüsten über meine Schulter und zeigte mit noch schwererem Finger auf meinen jungfräulichen Teller: »Was ist denn das? Da liegt ja noch alles drauf! Jetzt aber ganz schnell weg damit!« Sie griff nach dem unberührten Besteck, spießte ein großes Stück des fleischfarbenen Glibbers auf und hielt es mir vor die Nase. Nicht sehr lange, weil ich kotzen musste und damit das eklige Zeug auf meinem Teller endgültig ungenießbar machte.
Ebenso ungern erinnere ich mich an die Faschingsfeiern im Kindergarten. Während die anderen jedes Jahr in neuer Gestalt erschienen, war ich das Blumenmädchen, und zwar immer: Sommerkleid, Kopftuch und ein kleines Körbchen mit Kunstblumen. Einmal gab mir meine Mutter ein rotes Kopftuch und legte in das Körbchen eine leere Rotweinflasche und zwei Stücke Marmorkuchen: Rotkäppchen – es war demütigend.
Für den letzten Fasching im Kindergarten wollte ich das Blatt wenden. Und Oma Potsdam sollte mir dabei helfen. Sie war die Mutter meines Vaters, und wir nannten sie Oma Potsdam, um sie von Oma London zu unterscheiden.
Oma Potsdam ging mit mir in einen Laden, wie ich ihn vorher und auch nachher nie wieder gesehen habe. Von außen ein Geschäft für »Textilien und Kurzwaren«, drinnen eine bunte Wunderhöhle, vollgestopft mit Farben. Es konnten sich höchstens zwei oder drei Kunden gleichzeitig darin aufhalten, so eng war es dort. Die Tische bogen sich unter der Last großer, vielfarbiger und glänzender Stoffballen, in den Regalen türmten sich Garnrollen und Wollknäuel, von der Decke hingen lange bunte Bänder in allen Materialien und mit verschiedensten Mustern. Es gab große Holztruhen mit Tausenden Stoffresten und Kisten voller Knöpfe, Pailletten und Strass.
Die Besitzerin des Ladens hieß Eva, meine Oma duzte sie. Eva war ungefähr vierzig und unglaublich schön. Sie hatte feuerrotes lockiges Haar und graue Augen, deren Lider halb geschlossen waren, so dass sie immer irgendwie müde aussah. Meine Oma nannte es »Schlafzimmerblick«. Dass dieses Wort eine andere Bedeutung hatte, als ich ihm gab, lernte ich erst später. Auch erzählte sie mir irgendwann, dass Evas rotes Haar gar nicht echt sei und sie eigentlich das mittelblonde glatte Haar ihres Vaters habe – eines asthmatischen Bäckermeisters, bei dem ich immer unsere Brötchen holte.
Wir zwängten uns durch Evas Laden und suchten aus, was man für eine morgenländische Prinzessin brauchte. Eva nahm meine Maße und bestellte uns für den nächsten Tag in ihre Wohnung, deren Wände mit Stoffen tapeziert und mit Bildern geschmückt waren, die nur ein einziges Motiv hatten: Eva.
Eva schneiderte mir einen paillettenbesetzten Traum aus dunkelblauer Kunstseide, mit Schleier und langer Schleppe. Die Lebenszeit dieses Traumes betrug exakt zwei Stunden und endete im Hausflur meiner Oma als rußiges Nichts mit zerrissener Schleppe, einem verstauchten Knöchel und schlimmen Tränen. Völlig unbemerkt hatte sich die Prinzessin aus der Wohnung geschlichen, um ihre Großmutter mit einem Eimer Kohlen aus dem Keller zu überraschen. Scheherazade
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