Ab jetzt ist Ruhe
ihrer knarzigen warmen Stimme Indianergeschichten vor. Sie kochte mir Grüne Bohnen, buk mir Schokoladenkuchen und kaufte mir kleine Ringe mit leuchtenden bunten Glassteinen.
Nur die Sonntagvormittage waren öde. Da nahm sie mich mit in die Kirche. Eine Stunde elender Langeweile mit ernst dreinblickenden alten Leuten und einem gelbgesichtigen Pfarrer, der schlimm aus dem Mund roch. Wenn er vor dem Gottesdienst am Kirchenportal stand, um seine Gemeinde persönlich in Empfang zu nehmen, holte ich tief Luft und hielt sie an, bis ich drin war. Später begriff ich, dass ich einfach nur durch den Mund atmen musste, um mir das Leben zu retten. Ich drängte Oma Potsdam dazu, sich möglichst weit hinten in die Bank zu setzen, doch selbst da schien mich der stinkende Atem des Gottesmannes zu erreichen.
Mein Vater hatte seiner Mutter strikt untersagt, mich mit in die Kirche zu nehmen. Nicht etwa, weil er mir die endlosen Predigten, Gebete und das Psalmengesinge ersparen wollte. Nein, mein Vater machte sich Sorgen, dass mein zart heranwachsendes Klassenbewusstsein untergraben werden könnte.
Oma Potsdam wiederum hegte keine missionarischen Absichten – ob ich an Gott glaubte oder nicht, war ihr egal. Ihr ging es einzig darum, ihrem Sohn eins auszuwischen. Sie wusste, wie sehr mein Vater ihren Katholizismus hasste. Außerdem machte sie ihn verantwortlich für dieses »Desaster«, wie sie es nannte. Ich wusste damals natürlich noch nicht, was das bedeutete, erkannte aber an dem verächtlichen Blick, den sie bei diesem Wort durch ihre kleine Potsdamer Hinterhofwohnung schickte, dass es irgendetwas mit ihrem jetzigen Leben zu tun haben musste. Dass sie mich in die Kirche schleppte und im Westfernsehen Sesamstraße gucken ließ, war ihre kleine Rache an ihrem Sohn. Es bereitete ihr diebisches Vergnügen, ihn zu hintergehen.
»Der Schlag soll mich treffen, wenn ich mir das von deinem Vater verbieten lasse«, sprach sie und ließ die Zigarette aufglühen, die ich ihr gedreht hatte.
Eines Tages wurde sie wirklich vom Schlag getroffen. Als sie siebzig Jahre alt war, fiel sie um und war tot. Mein Vater saß in der Küche und rauchte. »Oma ist tot«, erklärte er mit ausdrucksloser Miene. »Morgen ist ihre Beerdigung. Willst du mit? Du musst nicht.« Ich weinte. Er rauchte. Ich war zehn Jahre alt. Natürlich wollte ich mit.
Bei ihrer Beerdigung sprach der mundriechende Priester weihevolle Sätze, und die rothaarige Eva tauschte ihren Schlafzimmerblick durch einen trauerumwölkten. Und mein Vater rauchte.
Mein Vater rauchte immer. Auch wenn Oma London kam, die es nicht leiden konnte, wenn er rauchte. Sie mochte meinen Vater nicht und hatte ihrer Tochter nie verziehen, dass sie sich von einem zum Katholizismus und später Kommunismus konvertierten Juden nach dem Krieg ausgerechnet ins verhasste Deutschland hatte verschleppen lassen. Und dann auch noch in den Osten. Tief in ihrem Inneren verachtete sie ihre Tochter dafür, dass sie sich das hatte bieten lassen, und ließ es meine Mutter auch Jahrzehnte später noch auf sehr subtile Weise spüren.
Oma London hieß Oma London, weil sie und ihr Mann William nach dem Krieg nicht nach Wien zurückgekehrt, sondern in England geblieben waren. Die beiden lebten in einem wohlhabenden Vorort von London, und im Sommer fuhren sie in ihr Ferienhaus auf die milden Scilly-Inseln vor der Küste Cornwalls.
Oma London war schon über siebzig und immer noch eine Schönheit – elegant gekleidet, mit perfekt frisiertem Haar und langen, rot lackierten Fingernägeln. Sie sprach feinstes Wienerisch, das sie sorgsam mit englischen Vokabeln versetzte – eine Dame in Vollendung.
William, den wir nur Willy nannten, war ihr zweiter Mann und stand ihr an Noblesse in nichts nach. Er trug ein sorgsam gestutztes Menjou-Bärtchen, sein dunkles gewelltes Haar war mustergültig nach hinten gekämmt – er war der Inbegriff des perfekten Kavaliers mit dem Charme und der Nonchalance eines Wiener Lebemannes.
Willy war Zeichner und Bildhauer mit einer besonderen Leidenschaft für Tiere. Er schuf große Bronzeplastiken, die gern in diverse Zoos gestellt wurden, und zeichnete Cartoons mit lustigen Hundegeschichten. Uns Kinder beschenkte Willy hauptsächlich mit Bengo. Bengo war ein Hundewelpe, der als Comic- und Zeichentrickfigur oder als Kuscheltier sein kleines widerspenstiges Dasein fristete.
Mein Kinderzimmer wurde von zahllosen Bengos bevölkert. Den Bengo-Mittelpunkt meines Lebens allerdings bildete ein
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