Ab jetzt ist Ruhe
in einem deutschsprachigen Buchladen Kafka, Hesse und Sigmund Freud. Wir sahen nicht ein, warum wir für ein Buch, das im Westen drei Mark kostete, hier mehr als das Zehnfache in Ostwährung bezahlen sollten. Das war schließlich Weltliteratur, die uns zustand und die es zu Hause nur unter dem Ladentisch gab.
Szeged war eine schöne Stadt, wir beschlossen, länger hierzubleiben. Der Besuch im Buchladen wurde zur schönen Tradition. Die Gefahr, von den Verkäufern wiedererkannt zu werden, war gering, denn der Laden war immer überfüllt. Am letzten Tag war ich so kaltblütig, dass ich mein Diebesgut nicht mal mehr versteckte, sondern offen ins Freie trug.
Abends auf dem Zeltplatz tranken wir schweren Wein und zeigten uns unsere leichte Beute. Es ging uns gut. Es war uns eigentlich nie besser gegangen. Wir trafen Leute, die wir mochten und mit denen wir Adressen tauschten, anderen gingen wir lieber aus dem Weg. Wir stritten uns darum, wer einkaufen und wer abwaschen musste. Wir waren eine verschworene Gemeinschaft und gingen einander auf die Nerven. Und dann trafen wir Ineke.
Ineke war schon Mitte zwanzig, kam aus Utrecht und war allein unterwegs. Sie erzählte uns, dass sie jedes Jahr für vier Wochen allein durch die Welt reise.
»Warum?«, fragte ich sie.
»Ich studiere Liebe«, sagte sie grinsend und mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte ich sie nach der Uhrzeit gefragt. Ich mochte ihre Stimme, die immer ein wenig heiser klang. Und ich mochte ihren weichen holländischen Akzent.
»Kann man Liebe studieren?«
»Na klar, man kann alles studieren.«
»Und was hast du bis jetzt rausgefunden?«
»Noch nicht viel«, sagte Ineke. »Deshalb bin ich ja hier.«
Ich verstand sie nicht immer, doch ich mochte sie. Wir alle mochten sie. Und der schüchterne Uli mochte sie besonders. Bis jetzt war er in mich verknallt gewesen. Das war mir unangenehm, weil er mich immer so bedeutungsvoll und leidend anschaute und ich mir dabei so bedeutungslos und oberflächlich vorkam. Eine Zeitlang hatte er mir in der Berufsschule ein schwarzes Schreibheft zugesteckt. Darin führte er eine Art Tagebuch in Briefen, die ich beantworten sollte. Ich tat ihm den Gefallen, wurde jedoch auch dabei nie das Gefühl los, ich sei oberflächlich und seelenlos. Jetzt also schaute er Ineke mit seinen traurigen Augen an. Er wich kaum von ihrer Seite, hing an ihren Lippen und notierte ihre Sätze in eines seiner schwarzen Hefte. Sie ließ es geschehen, manchmal nahm sie ihn mit in ihr Zelt.
Am Abend bevor ich nach Budapest aufbrach, schenkte mir Ineke ein dünnes Buch.
»Falls dir Freud zu anstrengend wird«, sagte sie.
»Die Kunst des Liebens?«
»Genau.«
Am nächsten Morgen packte ich meinen Rucksack. Es war ein komisches Gefühl. Zwar freute ich mich darauf, meinen Bruder nach drei Jahren endlich wiederzusehen, doch ich wäre auch gern weiter mit meinen Freunden durch die Gegend gezogen. Wir umarmten uns zum Abschied, und Stefan begleitete mich noch bis zum Ausgang des Campingplatzes. »Pass auf dich auf«, sagte er. »Und nimm keine Schokolade von Fremden!«
Als erfahrene Alleinreiserin hatte Ineke mir empfohlen, mich auf der Landstraße zwar als Mädchen zu erkennen zu geben, meine Weiblichkeit allerdings auch nicht zu sehr herauszustellen. Da ich meine Weiblichkeit ohnehin nicht gerade für besonders herausstellenswert hielt, entschied ich mich für das wallende Hippiekleid, das ich auf einem Markt geklaut hatte.
Bis nach Budapest waren es etwa einhundertsiebzig Kilometer, mit etwas Glück würde ich mit nur einem Auto dorthin kommen. Doch ich hatte kein Glück. Die Autos fuhren an mir vorbei, und nach einer halben Stunde stand ich immer noch da. Als ich gerade meinen Rucksack aufladen und ein Stück laufen wollte, hielt ein Ford mit ungarischem Kennzeichen. Der Fahrer war ein etwa vierzigjähriger Mann mit Kassengestell und akkuratem Haarschnitt. Er öffnete das Fenster der Beifahrertür und sah mich fragend an. »Budapest?«, fragte ich, er nickte. Ich packte meinen Rucksack auf die Rückbank und pflanzte mich neben ihn. Der Mann sprach offenbar weder Englisch noch Deutsch, und mein ungarisches Vokabular beschränkte sich auch nur auf die nötigsten Floskeln – also schwiegen wir. Er suchte im Radio einen Musiksender, ich schaute aus dem Fenster und ließ die Landschaft an mir vorüberfliegen. Es ging mir gut, bis ich plötzlich seine Hand auf meinem linken Knie spürte – ganz leicht und fast schüchtern nur, doch
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