Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
Vom Netzwerk:
das Kind jüdischer Emigranten, die sich im englischen Exil kennengelernt hatten und als Kommunisten nach Deutschland zurückgekehrt waren. Das verband uns. Doch im Gegensatz zu mir hatte sich Martin viel mehr mit seinen jüdischen Wurzeln beschäftigt als ich. Er wusste alles über die Geschichte und die Traditionen des Judentums und empfahl mir Bücher von Lion Feuchtwanger und Elias Canetti. Martins Mutter mochte mich, und ich glaube, sie fand es gut, dass wir zusammen waren. Vielleicht auch, weil sie meinen Vater mochte. »Ach wie schade«, sagte sie enttäuscht, als sie hörte, dass wir nicht mehr zusammen waren.
    Ich erfuhr es an meinem achtzehnten Geburtstag, den ich bei Martin feierte. Er kochte tolle Sachen, schlenderte lässig durchs Zimmer, schenkte uns Wein ein, und als auch er irgendwann genug getrunken hatte, erklärte er mir, dass er ab jetzt nicht mehr mit mir gehe, sondern mit einem Mädchen aus meiner Parallelklasse. Ich weinte. Ich ließ mich trösten. Ich hatte einen Kater, doch der ging vorbei. Martin und ich blieben Freunde.
     
    Der Sommer kam und mit ihm eines der größten Probleme, die ich bis dahin zu lösen hatte. Ich musste meinen Vater davon überzeugen, dass es überhaupt kein Problem sei, wenn ich mit meinen Freunden drei Wochen lang durch Ungarn trampte, und ich musste ihm dabei verschweigen, dass ich in Budapest meinen ältesten Bruder treffen würde. Seit er vor drei Jahren in den Westen gegangen war, hatte mein Vater kein Wort mehr über ihn verloren.
    Ihn anzulügen, war eigentlich nicht das Problem – das hatte ich schon oft getan, und ich gehörte auch sonst nicht gerade zu den ehrlichsten Menschen, die ich kannte. Doch jetzt hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ich wollte ihn nicht in Schwierigkeiten bringen und ahnte, dass er sie bekäme, wenn ich mich mit meinem abtrünnigen Bruder im Ausland träfe. Doch andererseits: na und? Ich war volljährig – ich konnte machen, was ich wollte. Und dann wiederum: Seit der Trennung von der Frau ging es meinem Vater nicht besonders. Nicht etwa, weil er sie vermisste, sondern weil sie ihm sogar aus der Entfernung noch das Leben schwermachte. Sie hatte ja nicht nur bei uns zu Hause herumspioniert, sondern erledigte diesen Job auch anderswo zur vollsten Zufriedenheit der Staatssicherheit. Dabei schoss sie gern übers Ziel hinaus und verbreitete die absurdesten Gerüchte und Lügen über jeden, der ihr nicht passte. Und dazu gehörte inzwischen eben auch mein Vater. – All das machte ihn müde, deshalb wollte ich ihn nicht enttäuschen.
    Zu meiner Überraschung hatte mein Vater überhaupt nichts dagegen, dass ich mit meinen Freunden durch Ungarn trampen wollte. Er gab mir sogar ein sehr großzügiges Taschengeld, so dass ich mein Erspartes nur für Campingausrüstung und Zugfahrkarte würde ausgeben müssen. Noch einmal quälten mich Gewissensbisse und das Gefühl, ihn zu hintergehen – doch das Abenteuer, das vor mir lag, war größer und heller.
     
    Wir waren sechs Leute: Martin und seine neue Freundin, Stefan, der schüchterne Uli, Susi und ich. Unser Zug fuhr nach Mitternacht und war brechend voll. Es waren Ferien, und Ungarn war das Paradies – nicht nur wegen der tollen Landschaft, sondern auch weil man dort Klamotten, Platten und Bücher bekam, die es bei uns nicht gab. Ungarn war der Westen des Ostens – dafür würden wir gern zwölf Stunden in den engen Gängen des Zuges kampieren. Wir fanden Platz im Übergang zwischen zwei Waggons. Immer wenn die Klotür geöffnet wurde, schlug uns übler Geruch entgegen. Wir neutralisierten ihn, indem wir uns mit viel Rotwein betäubten, und erst, als es fast schon dämmerte und der gesamte Zug zur Ruhe gekommen war, fanden auch wir ein bisschen Schlaf.
    Übermüdet und grau fielen wir in Budapest aus dem Zug und schleppten uns aus dem Bahnhof. Wurden wir eben noch von widerlichem Gestank gepeinigt, waren es jetzt unerträgliche Mittagshitze und das Wissen, dass wir noch lange nicht am Ziel waren, denn unser Zeltplatz lag vor den Toren der Stadt. Unsere Stimmung war gereizt, doch wir sprachen nur das Nötigste – schließlich war das hier der Beginn eines großen Abenteuers, und jede Demonstration schlechter Laune wäre ein Armutszeugnis gewesen.
    Nachdem wir eine halbe Stunde umhergeirrt waren, fanden wir schließlich den Bus, der uns an unser Ziel bringen sollte. Wir waren fast die Letzten, die sich mit ihren schweren Rucksäcken hineinzwängten. Im Bus war es etwa zehn Grad

Weitere Kostenlose Bücher