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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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deutlich genug, um mich in leichte Panik zu versetzen. Was für ein Klischee, dachte ich. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass eine Szene, die ich hundertmal in irgendwelchen Filmen gesehen hatte, tatsächlich Realität werden könnte. Doch der Mann neben mir ging offenbar auch gern ins Kino und hatte sich jetzt vorgenommen, die Hauptrolle in seinem eigenen blöden Film zu spielen.
    Ich zog mein Knie unter seiner Hand weg und rutschte ein Stück näher an die Beifahrertür. Er legte seine Hand wieder ans Steuer und drehte das Radio lauter. Ich versuchte aus den Augenwinkeln sein Gesicht zu sehen, doch da gab es nichts zu entdecken. Der Mann schaute ungerührt und konzentriert auf die Straße, als sei nichts geschehen. Ich wusste nicht, ob er seinen Plan fallengelassen hatte oder sich eine neue Strategie überlegte, aber ich hatte auch nicht die geringste Lust, das herauszufinden. Also gab ich ihm zu verstehen, dass ich aussteigen wollte. Der Mann zuckte mit den Schultern, hielt an, ich stieg aus, nahm meinen Rucksack, knallte die Tür zu, er gab Gas und fuhr weg. Ich atmete tief ein und wieder aus und spürte erst jetzt, dass meine Knie zitterten.
    Ich setzte mich an den Straßenrand und überlegte gerade, wie ich es anstellen sollte, nicht wieder im Auto eines solchen Idioten zu landen, als ein Pritschenwagen neben mir hielt. Der Fahrer war ein großer, schwerer Glatzkopf, und neben ihm saß ein halbwüchsiger Junge – offenbar sein Sohn.
    »Budapest?«
    »Budapest!«
    Der Fahrer stieg aus, gab mir die Hand, stapelte die Gemüsekisten hinten so, dass ich komfortabel sitzen konnte, wuchtete meinen Rucksack nach oben und fuhr los. So hatte ich mir das vorgestellt. Jetzt imitierte das Leben die Kunst auf eine Weise, die mir gefiel. Ich ärgerte mich ein bisschen, dass niemand von meinen Freunden oder meiner Familie mich so sehen konnte.
    In Budapest setzten mich Vater und Sohn bei der Adresse ab, die ich ihnen auf einem Zettel gezeigt hatte. Es war das Haus, in dem Tamás wohnte – ein ungarischer Schriftstellerfreund meines ältesten Bruders. Die beiden hatten sich in Ostberlin angefreundet, und als mein Bruder im Westen war, hatte er ein paar Gedichte und Geschichten von Tamás für einen deutschen Verlag bearbeitet.
     
    Ich stieg die Treppen hinauf und klingelte an der Wohnungstür. Niemand öffnete. Ich klingelte wieder. Nichts. Ich legte mein Ohr an die Tür und lauschte. Kein Geräusch. Ich schaute auf die Uhr. Es war zwei Uhr nachmittags – vielleicht war ich zu früh. Ich stellte meinen Rucksack ab und setzte mich auf die Stufen. Ich würde einfach hier sitzen bleiben, bis sie kämen, lange würde das bestimmt nicht dauern. Doch ich hatte Hunger, und meine Wasserflasche war auch fast leer. Also lud ich mir den Rucksack wieder auf und trat hinaus auf die Straße. Brennende Hitze schlug mir entgegen. Eine Hitze, die ich durch den Fahrtwind auf der Ladefläche des Obstautos gar nicht gespürt hatte. Ich lief ein Stück und suchte einen Imbiss oder einen Lebensmittelladen. Doch um diese Zeit hatten die Läden geschlossen, und der einzige Kiosk in der Gegend wurde von lauten Männern umlagert. Ich überlegte, was ich tun sollte. Ich wusste nicht, wo mein Bruder sich aufhielt – das würde ich erst von Tamás erfahren. Also blieb mir nichts anderes übrig als zu warten, bis er zurückkäme.
    Ich ging in eine Telefonzelle, suchte im Telefonbuch nach der Nummer von Tamás, fand sie und rief an. Keine Antwort. In dem Maße, wie der Schweiß an mir hinunterrann, stieg Unruhe in mir auf. Wenn nun irgendwas schiefgelaufen war? Wenn der Freund meines Bruders gar nicht wusste, dass ich heute kam? Ich verwarf den Gedanken wieder und redete mir ein, dass schon alles gut würde. Ich verließ die Zelle wieder und trottete zu dem Kiosk, an dem noch immer die Männer standen und tranken. Ich zwängte mich zwischen ihnen durch und kaufte zwei belegte Brötchen, eine Packung Kekse und eine große Flasche Wasser. Die Männer kommentierten meine Anwesenheit mit bierschwerem Atem und machten sich lustig über mich. Es war mir egal. Ich bezahlte und sah zu, dass ich wegkam. Ich lief ein Stück, fand einen kleinen Platz unter Bäumen, setzte mich auf eine Bank, aß und trank und fühlte mich besser, bis mich plötzlich eine dunkle Ahnung befiel. Ich holte meinen Kalender raus, blätterte zum heutigen Datum, und tatsächlich: Ich hatte mich im Tag geirrt, ich war einen Tag zu früh in Budapest! Heute war Montag, und die

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