Ab jetzt ist Ruhe
Adresse von Tamás hatte ich erst für den nächsten Tag notiert. Ich fluchte – das war mal wieder so typisch! Doch was sollte ich jetzt machen? Zurück zu meinen Freunden nach Szeged? Absurd! Doch wenn bei Tamás niemand öffnete, musste ich mir für die Nacht anderswo eine Bleibe suchen. Vielleicht wüssten meine Brüder, in welchem Hotel sich mein ältester Bruder aufhielt? Ich müsste eine Post suchen und sie anrufen.
Ich packte mein Zeug wieder zusammen, fragte auf der Straße nach der Post, und man zeigte mir den Weg. Am Schalter für die Ferngespräche stand eine lange Schlange, es gab nur zwei Zellen. Ich ging wieder. Die Nachmittagshitze war inzwischen unerträglich, also schlurfte ich zurück zum Haus von Tamás. Dunkler kühler Hausflur, und vielleicht war ja inzwischen jemand zu Hause. Fehlanzeige.
Ich setzte mich auf die Stufen und dachte nach. Eine dicke Frau kam die Treppe herauf und sah mich misstrauisch an. Ich machte ihr Platz, sie murmelte irgendwas, seufzte tief und vorwurfsvoll und verschwand ein Stockwerk höher hinter ihrer Wohnungstür. Ich schaute auf die Uhr. Es war halb fünf, ich musste mir etwas einfallen lassen.
Ich stieg die Treppe hinauf bis zum Dachboden. Die Tür war unverschlossen, also ging ich hinein. Die Luft war stickig und roch nach modrigem Holz und Vogelscheiße. Durch eine dreckige Dachluke fiel ein bisschen Tageslicht. Ich suchte einen Lichtschalter, fand ihn auch, doch das Licht funktionierte nicht. Also wühlte ich in meinem Rucksack nach der Taschenlampe. Sie war natürlich ganz unten – auch das war typisch. Leise fluchend stopfte ich die Klamotten, die inzwischen auf dem staubigen Boden herumlagen, wieder in den Rucksack und sah mich um: Kartons mit alten Zeitungen und Flaschen, ein paar alte Stühle und ein Tisch, eine Matratze, die diesen Namen nicht mehr verdiente, ein offenbar kaputter Kühlschrank und eine rostige Blechwanne, die zur Hälfte mit muffigem Wasser gefüllt war. Als ich nach oben schaute, wusste ich auch, warum … Das hier war ein Dachboden wie jeder andere – außer den paar Tauben, die ihre beißenden Spuren hinterließen, hatte er kaum Besucher. Also beschloss ich, hier zu übernachten. Aus Möbeln und Kisten baute ich mir einen kleinen Verschlag, rollte dahinter Isomatte und Schlafsack aus, setzte mich auf einen der Stühle und zündete mir eine Zigarette an. Meine Augen hatten sich inzwischen an das Halbdunkel gewöhnt, und auch der Gedanke, die Nacht hier zu verbringen, war gar nicht mehr so schlimm. Von draußen hörte ich eine Kirchenglocke – sie schlug fünf. Ich überlegte, wie ich jetzt noch die Zeit totschlagen könnte. Ich war zwar erschöpft, doch zum Schlafen noch nicht müde genug.
Ich rollte Isomatte und Schlafsack wieder ein, versteckte sie mit meinem Zelt und ein paar schweren Gegenständen aus dem Rucksack in einer dunklen Ecke des Bodens hinter ein paar herumliegenden alten Holzplanken und ging. Unten klingelte ich noch einmal an Tamás’ Wohnungstür, keiner da. Ich verließ das Haus und lief die Straße hinunter, diesmal in die andere Richtung. Mein Orientierungssinn war unfassbar schlecht – ich hatte das Talent, mich auch in den übersichtlichsten Gegenden hoffnungslos zu verlaufen. Außerdem hatte ich keinen Stadtplan, also tat ich besser daran, mich nicht allzu weit von dieser Straße zu entfernen.
Es war immer noch sehr heiß, auf der Straße hatte der Feierabendverkehr eingesetzt, und die Leute hasteten mit angespannten Gesichtern an mir vorbei. Ich kam mir plötzlich sehr verloren vor und sehnte mich zu meinen Freunden zurück. Doch es half nichts – ich war jetzt hier und musste klarkommen. Also kam ich klar, setzte mich in ein Café, bestellte mir einen Mokka und holte eines der Bücher aus dem Rucksack, die ich in Szeged geklaut hatte. Ich versuchte zu lesen, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich sah mich um. Am Nebentisch saß eine Frau mit einem Baby auf dem Schoß und versuchte, es mit Kuchen zu füttern. Das Baby drehte den Kopf weg. Es hatte keinen Hunger. Ich hatte auch keinen Hunger.
Ich ging zur Toilette, wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser, setzte mich wieder hin und trank meinen Kaffee. Das Kind auf dem Schoß der Frau fing jetzt an zu quengeln, und auch meine Laune wurde nicht unbedingt besser. Ich verlangte die Rechnung und verließ das Café. Ich lief noch ein Stück die Straße hinauf und ging dann auf der anderen Seite zurück, bis ich wieder vor der Post stand. Drinnen
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