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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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eben Musik. Ich ging zur Musikhochschule und sang ihnen was vor.
    »Sie wollen Sängerin werden? Sie treffen die Töne, doch Sie haben kein Talent. Daraus wird wohl nichts.«
    Desillusioniert ging ich in den Buchladen am Alexanderplatz, um mir einen Studienführer zu kaufen. Drinnen tummelten sich wie immer jede Menge Tagestouristen aus dem Westen, um ihr letztes Ostgeld loszuwerden.
    Am Regal mit der politischen Literatur stand ein großer schlaksiger Typ mit langen Haaren und Nickelbrille, blätterte in einer Broschüre und lächelte irgendwie abseitig. Er sah genauso aus wie John Lennon, und ich liebte John Lennon.
    Ich stellte mich unauffällig neben ihn und tat so, als studiere ich die Buchrücken im Regal. Dabei versuchte ich den Titel der Broschüre zu entziffern, die er las: » IX . Parteitag der SED «. Wäre ich nicht so schüchtern gewesen, hätte ich laut losgeprustet. Der Typ sah aus wie der größte Rebell und Popstar, den ich kannte, und las hier freiwillig das Zeug, mit dem man uns im Staatsbürgerkundeunterricht in die Verzweiflung trieb – der konnte das nicht ernst meinen. Doch er meinte es ernst. Irgendwann klappte er die Broschüre zu, griff in die Hosentasche seiner Jeans, zählte Kleingeld ab und ging zur Kasse. Ich überlegte kurz, dann vertagte ich die Erforschung meiner Zukunftspläne und folgte ihm. So etwas hatte ich noch nie gemacht, doch es roch nach Abenteuer, und dieser Lennon-Typ faszinierte mich.
    Vor dem Buchladen zögerte er einen Augenblick, sah sich um und wandte sich dann nach links. Ich folgte ihm in einiger Entfernung. Er schlenderte am Fernsehturm vorbei und überquerte die Straße in Richtung Markthalle. Ich studierte seine Bewegungen. Er ging nicht wie ein Tourist, und doch wie ein Fremder. Er bewegte sich lässig, und trotzdem staunend – man sah ihm an, dass er nicht hierhergehörte.
    Lennon ging in die Markthalle und verlangte am Tabakstand ein Päckchen Karo. Ich stellte mich ein Stück abseits und schaute zu. Wieder griff er in seine Hosentasche und zählte Kleingeld ab. Hinter der Kasse stand eine fahlgesichtige Frau in Kittelschürze, nahm ihm das Geld ab, zählte ebenfalls und schüttelte den Kopf.
    »Das sind fünf Pfennig zu wenig«, meckerte sie. »Die Zigaretten kosten eins sechzig!«
    »Oh, das tut mir leid«, entschuldigte sich Lennon sehr höflich. »Dann nehmen Sie die Zigaretten doch bitte wieder zurück.«
    »Das geht nicht«, plusterte sich die Schürzenfrau auf. »Das ist jetzt schon gebongt!«
    Lennon griff wieder in die Hosentasche und reichte der Kassiererin eine Münze. Die stutzte kurz, sah sich um, und dann polterte sie los: »Sie denken wohl, ich hab sie nicht mehr alle, oder was? Ich nehm doch hier kein Westgeld! Was bilden Sie sich überhaupt ein, junger Mann? Packen Sie das mal schön wieder weg!«
    Lennon sah sehr irritiert aus und steckte sein Geld beschämt wieder ein, als ihm eine Frau mit hochgetürmtem, blondiertem Haar von hinten auf die Schulter tippte: »Ich denke, ich kann Ihnen helfen«, sagte sie in verschwörerischem Ton und zog ihn etwas beiseite. Sie zog ihr Portemonnaie aus der Handtasche, holte eine Münze raus, säuselte irgendetwas, worauf Lennon ihr Geldstück gegen eines der seinen tauschte. Er ging wieder zur Schürzenfrau und drückte ihr die Münze in die Hand. »Fünfzig Pfennig, bitte schön«, sagte er grinsend. »Könnte ich jetzt bitte meine Zigaretten bekommen?« Die Kassiererin stöhnte geräuschvoll, warf der Blondine einen giftigen Blick zu und händigte Lennon das Päckchen Karo und das Wechselgeld aus, worauf mein neuer Freund diesen Ort des Grauens sehr schnell wieder verließ. Ich musste aufpassen, dass ich ihn im Markthallengetümmel nicht aus den Augen verlor.
    Draußen schaute er auf die Uhr und lief entschlossenen Schrittes zurück zum Alexanderplatz. Ich war gespannt, was er jetzt tun würde.
    Er lief in Richtung des Hauses, in dem ich die ersten zehn Jahre meines Lebens verbracht hatte, und blieb vor dem »Haus des Lehrers« stehen. Einfach so. Mir blieb nichts weiter übrig, als an ihm vorbeizugehen. Er bemerkte mich nicht. Ich verschwand hinter der Ecke des Hochhauses und blieb ebenfalls stehen. Was um alles in der Welt wollte er hier? Hier gab es doch nichts. War er vielleicht verabredet? Ich war ihm nun schon so lange gefolgt, da konnte ich jetzt nicht einfach gehen. Ich spähte um die Ecke.
    Lennon öffnete die Schachtel Zigaretten, nahm sich eine raus, tippte sie cool nach Bogart-Art auf

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