Ab jetzt ist Ruhe
Sie gaben sich keine besondere Mühe, nicht aufzufallen.
Mein ältester Bruder kam auf uns zu, gab der hellen Tänzerin die Hand und umarmte mich und meinen jüngsten Bruder. Dann stand er vor meinem Vater. Er zögerte kurz, dann umarmte er auch ihn. Die Leute tuschelten, und die Stasitypen schauten zum Friedhofstor, vor dem ein Mann aus dem Taxi stieg. Der Regisseur. Er war aus Westberlin gekommen, wo sein Film bei der Berlinale gefeiert und geliebt wurde. Er kam zu uns, umarmte meine Brüder und mich und reichte meinem Vater die Hand.
»Dein Sohn war ein wundervoller Mensch, und er war sehr begabt.« Mein Vater nickte und schwieg.
Es gab keine Zeremonie und keine Musik. Der Sarg meines Bruders wurde aus der Kapelle getragen, wir gingen hinterher, und am Grab las ein Schauspieler ein Gedicht, das der Dichter mit der weiten Stirn ausgesucht hatte. Es handelte davon, dass der Tod etwas Beruhigendes habe, dass man jedoch die Sache mit dem Jüngsten Gericht nicht so ernst nehmen dürfe. Die Leute machten ernste und wissende und traurige Gesichter, und manche hantierten mit Taschentüchern. Den meisten glaubte ich ihre Trauer nicht, doch ich beneidete sie um ihre falschen Tränen. Ich hatte keine. Schon wieder nicht.
Nach der Beerdigung verließen wir den Friedhof, und mein Vater verabschiedete sich von seinen Söhnen.
»Ich wollte nicht, dass dieser Sohn vor dir stirbt«, sagte mein ältester Bruder.
»Das verstehe ich nicht«, antwortete mein Vater.
»Doch, ich glaube, dass du das sehr gut verstehst. Aber egal. Es war gut, dich zu sehen, Vater.«
Sie gaben sich die Hand.
Mein Vater erwartete, dass ich mit ihm ging. Wir könnten etwas essen gehen, und dann müsse er ins Büro.
»Ich hab keinen Hunger.«
»Dann bringe ich dich nach Hause.«
»Musst du nicht. Du kannst mich am Bahnhof rauslassen.«
»Gut.«
Ich stieg in die S-Bahn und fuhr zurück zur Wohnung meines jüngsten Bruders. Dort saßen die gleichen Leute wie morgens, nur tranken sie jetzt keinen Kaffee, sondern Schnaps. Irgendwann stiegen wir wieder in ein Auto und fuhren zum Dichter mit der weiten Stirn. Er wohnte in einem großen Neubaublock gegenüber vom Tierpark. Das Haus war hässlich, die Wohnung war schön. Groß und hell mit guten Stühlen aus Stahlrohr und Leder.
Auch dort waren viele Leute und rauchten und tranken. Der Dichter mit der weiten Stirn kam irgendwann zu mir und fragte mich, wie es mir gehe.
»Es geht«, sagte ich.
Er nickte, zog an seiner Zigarre und hüllte uns beide in eine rauchige Wand. »Manchmal ist es ganz gut, allein zu sein, wenn Leute um einen sind.«
Wir unterhielten uns ein bisschen, er fragte mich, wie mir der Film gefalle, in dem mein mittlerer Bruder mitgespielt habe. »Eigentlich ganz gut«, antwortete ich und hatte plötzlich das Gefühl, etwas Interessantes sagen zu müssen, weil ich so langweilig war.
»Ich fand ihn nur manchmal etwas unrealistisch.«
»Was meinst du damit?«
»Ich weiß nicht. Als die Sängerin an der Bar von diesem Geschäftsmann angemacht wird, seine Brille nimmt, sie zerbricht und in sein Glas schmeißt … Das fand ich irgendwie unrealistisch.«
»Hm«, sagte der Dichter mit der weiten Stirn. »Wenn du das findest, ist es wohl so.«
Ich hätte mich ohrfeigen können. Ich kam mir pubertär und dämlich vor. Und das war ich auch.
Als ich später in der S-Bahn saß, dachte ich an meinen mittleren Bruder. Ich hatte die ganze Zeit nicht an ihn gedacht. Jetzt tat es weh. Sehr.
Acht
E s tat auch am nächsten Tag weh und am übernächsten und am Tag danach, doch das Leben ging weiter. Ich musste für die Prüfungen lernen und meine Facharbeiterarbeit schreiben. Ich musste mit meinen Freunden rumhängen und meinen neunzehnten Geburtstag feiern. Ich musste mich getrieben fühlen und zu Tode langweilen. Und außerdem musste ich mir langsam überlegen, was nach all dem aus mir werden sollte.
»Warum studierst du nichts Praktisches?«, fragte mein Vater. »Du könntest Ingenieur werden.«
Eine leuchtende Karriere als Ingenieur? Ich? Niemals! Ich wollte lieber irgendwas Unpraktisches tun wie zum Beispiel Sprachen erforschen und um die Welt reisen oder einfach den ganzen Tag tolle Bücher lesen und übersetzen. Also ging ich zur Universität und informierte mich über ein Studium.
»Sie wollen Sprachen erforschen und um die Welt reisen oder einfach den ganzen Tag tolle Bücher lesen und übersetzen? Ihr Bruder ist doch in den Westen gegangen. Daraus wird wohl nichts.«
Gut. Dann
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