Ab jetzt ist Ruhe
seinen Handrücken und schüttelte verwundert den Kopf, als ihm der Tabak aus der viel zu locker gestopften Ostzigarette auf die Hand rieselte. Er drückte ein bisschen darauf herum, steckte sie sich in den Mund und zündete sie an. So stand er, rauchte und wartete. Hin und wieder schaute er auf die Uhr, lief ein bisschen hin und her, rauchte wieder und schaute wieder auf die Uhr. Ich wurde langsam ein wenig unruhig. Er nicht. Er holte die Broschüre, die er vorhin im Buchladen gekauft hatte, aus der Tasche und las darin. Dann sah er wieder auf die Uhr und rauchte eine weitere Zigarette.
Ich dachte kurz daran, zu ihm zu gehen und ihn nach der Uhrzeit zu fragen, doch mir fehlte der Mut. Es schien mir wie eine Lüge. Und es war eine Lüge. Ich nahm mir ein Herz und lief auf ihn zu, fing seinen Blick, grinste ihn an und lief an ihm vorbei. Ich traute mich nicht zurückzuschauen. Erst als ich am U-Bahnhof war, drehte ich mich um. Lennon stand da und rauchte. Ich lief die Treppe hinunter, stieg in die U-Bahn und fuhr weg. Immer dieses Kommen und Gehen, dachte ich. Immer diese verpassten Gelegenheiten.
Am Tag darauf ging ich wieder in den Buchladen, kaufte einen Studienführer, blätterte lustlos darin herum und traf schließlich eine Entscheidung.
»Ich werde nicht studieren«, sagte ich am Abend zu meinem Vater.
»Gut. Aber was willst du dann tun?«
»Ich werde arbeiten gehen.«
Das Gesicht meines Vaters hellte sich auf. Er hatte mir oft zu verstehen gegeben, dass ihm meine Zukunftspläne zutiefst missfielen. Künstler und Intellektuelle – davon hatte er in seiner Familie mehr als genug, und man wusste ja, wohin das führte.
»Das ist eine gute Entscheidung«, sagte er anerkennend. »Ich bin stolz auf dich.«
Ich überlegte kurz, ob ich ihn fragen sollte, worauf genau er stolz war. Da ich jedoch einen ermüdenden Vortrag über die Rolle der Arbeiterklasse beim Aufbau des Sozialismus befürchtete, behielt ich die Frage für mich. Er hielt den Vortrag trotzdem. Als er fertig war, klopfte er mir auf die Schulter und erklärte mir noch einmal, wie stolz er auf mich sei.
Ich würde also Teil der Arbeiterklasse sein – das fühlte sich komisch, aber nicht falsch an. Vor allem hatte die Paukerei endlich ein Ende, vielleicht sogar für immer. Mit diesem entspannten Gefühl ging ich durch das Abitur und legte die Facharbeiterprüfung ab. Es lief gut, und an einem schönen Tag im Juni ging meine Kindheit zu Ende. Ich trauerte ihr nicht nach. Es war in Ordnung.
Meine Freunde und ich trampten an die Ostsee. Wir schwammen im Meer, machten abends Feuer und schauten verklärt in die Glut. Wir wussten, dass es unser letzter gemeinsamer Sommer sein würde, doch wir sprachen nicht darüber. Wir fuhren zurück in die Stadt, danach sahen wir uns kaum noch.
Nur mein bester Freund Stefan blieb in meiner Nähe. Wir trampten aus der Hitze Berlins in den Regen von Prag. Es goss ununterbrochen, unser Zelt schwamm schon am ersten Tag und unsere Laune auch. Wir drückten uns in Kaffeehäusern herum und hielten uns stundenlang an einem Glas Cola fest. Sobald der Regen nachließ, zahlten wir und streunten missmutig durch die Stadt, bis der nächste Regen kam.
Einmal flüchteten wir in ein Hotel. Die Empfangshalle wurde bevölkert von Männern in Anzügen. Sie standen rauchend in kleinen Gruppen zusammen und redeten mit ernsten Gesichtern. Sie sprachen Englisch, offenbar nahmen sie an einem Kongress teil, der im Hotel stattfand. Wir schlichen uns unbemerkt an ihnen vorbei, gingen die Treppe zum ersten Stock hinauf und schlenderten den Flur entlang. Stefan verschwand auf der Herrentoilette, und ich sah mich bei den Damen um. Dort wusch ich mich und tauschte meine nassen Klamotten gegen trockene aus dem Rucksack.
Wir gingen wieder hinunter in die Empfangshalle, die inzwischen menschenleer war. An der Wand stand ein Tisch mit belegten Brötchen, Kaffee, einer angebrochenen Flasche französischem Cognac und einer noch versiegelten Stange englischer Zigaretten. Ich überlegte nicht lange und ließ Cognac und Zigaretten in meinem Rucksack verschwinden. Stefan schaute sich nervös um und schüttelte dann grinsend den Kopf.
»Das Volk ist dumm«, sagte ich achselzuckend. »Das hast du selbst mal gesagt.«
»Was hat das damit zu tun?«
»Wenn die das Zeug hier so rumliegen lassen?«
»Das heißt doch nicht, dass du’s einfach mitnehmen kannst. Bist du doof?«
»Ich habe den Kapitalismus geschädigt, ich kann nicht doof
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