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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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als sei ich nicht weg gewesen. »Aber sterben ist scheiße.«
    »Ja. Und zu erleben, wie jemand stirbt, ist auch scheiße.«
    »Deine Mutter, oder?«
    »Ja.«
    »Meine auch. Vor drei Wochen.«
    »Oh. Tut mir leid.«
    »Schon gut.« Finke nahm meine Hand. Ich ließ es geschehen.
    Mein Vater schrie meinen Namen. Ich ging ins Wohnzimmer. Er saß vorm Fernseher und schaute Nachrichten.
    »Ihr trinkt da Wein«, sagte er, ohne sich umzuschauen.
    »Ja und?«
    »Sollte dem jungen Mann da was passieren, wenn er betrunken Fahrrad fährt, übernehme ich nicht die Verantwortung!«
    »Du musst keine Verantwortung übernehmen, Papa. Er ist erwachsen.« Ich drehte mich um, lief aus dem Zimmer, rief aus dem Flur: »Und ich übrigens auch!«, und knallte meine Tür zu. Mein Vater brüllte meinen Namen. Ich ließ ihn brüllen.
    »Was ist denn mit dem los?«, fragte Finke.
    »Ich hab keine Ahnung. Ich glaube, er ist eifersüchtig.«
    »Ach du Scheiße. Dann geh ich vielleicht besser, oder?«
    »Ja, vielleicht ist das besser. Tut mir leid, das ist mir so peinlich.«
    »Schon gut, muss es nicht. Du kannst ja nichts für deinen Alten. Sehen wir uns morgen?«
    »Klar.«
    Finke zog seine Jacke an, ich brachte ihn zur Tür, er umarmte mich und gab mir einen Kuss auf die Wange. Im Wohnzimmer saß mein Vater vor dem Fernseher und rauchte.
    »Du hast es geschafft, jetzt ist er weg!«
    »Werd nicht frech«, sagte er schneidend.
    »Du hast ihn vergrault, Papa!«
    »Lass mich in Ruhe.«
    »Und so vergraulst du mich auch!«
    »Du sollst mich in Ruhe lassen.«
    Ich ging in mein Zimmer und drehte die Musik laut. Am Ende der Platte war es in der Wohnung still und dunkel. Mein Vater war schlafen gegangen. Ich überlegte, ob ich am nächsten Tag noch mal versuchen sollte, mit ihm zu reden. Doch ich ließ es bleiben. Es war alles gesagt. Mein Vater würde bald wieder verreisen, und dann konnte ich sowieso machen, was ich wollte.
    Finke und ich sahen uns bald täglich und ließen unsere Hände kaum noch los. Und schließlich kam auch die Nacht, die gut für uns war und wir gut füreinander. Drei Monate lang, dann wurde meine Liebe blass. Einfach so. »Ich hab mir so was schon gedacht«, sagte Finke traurig. »Das passiert mir immer wieder. Vielleicht sollte ich anfangen, eigene Lieder zu schreiben. Dieses Stones-Nachgeäffe hält auf die Dauer keine Frau bei mir.«
    Als das Jahr zu Ende ging, ließen wir uns los.
     
    Das alte Jahrzehnt endete unaufgeregt. Ich feierte mit meinen Freunden, wir tranken auf den Ernst des Lebens und auf eine leuchtende Zukunft, fielen trunken in unsere Betten und schliefen unsere Köpfe leer.
    Im Januar ging ich zur Premiere des Films, in dem mein mittlerer Bruder mitspielte. Es war der Film über eine Sängerin, die davon träumt, gewollt und geliebt zu werden. Auf der Bühne und im Leben. Mein Bruder spielte den Saxophonisten der Band, mit der die Sängerin durch das kleine Land tingelte. Seine Rolle war wichtig, und er spielte sie so, dass mir die Luft wegblieb. Das da war er. Er musste es gar nicht spielen – er war dieser lustige und wütende und verzweifelte Junge mit dem Saxophon. Ich liebte ihn.
    Als der Abspann lief, klatschten die Leute sehr lange. Die Schauspieler und der Regisseur – ein großer, dunkler Mann – gingen auf die Bühne und lachten. Mein Bruder sah glücklich aus, ich war stolz auf ihn.
    Der Film lief wochenlang im Kino, immer ausverkauft. Mein Bruder erzählte, dass er vielleicht mit nach Westberlin fahren dürfe, wenn der Film bei der Berlinale gezeigt würde.
    »Er läuft sogar im Wettbewerb«, sagte er. »Ich bekomme bestimmt den Preis für die beste Anmache.«
    »Die, wo du sagst: Heute isses so weit, dass wir bumsen?«
    »Genau.«
     
    An einem Sonntagmorgen Anfang Februar klingelte das Telefon. Mein Vater und ich frühstückten gerade und redeten über irgendwelche organisatorischen Dinge, da er am nächsten Tag wieder verreisen würde. Er stand auf und nahm den Hörer ab.
    »Ja?«
    Ich konnte nicht hören, wer in der Leitung war und auch nicht, was die Stimme sagte. Ich sah nur die Schultern meines Vaters, die plötzlich nach vorn fielen.
    Manchmal spielt uns das Gehirn seltsame Streiche. In der Erinnerung bilden wir uns ein, etwas gewusst zu haben, bevor es eingetreten ist. Und genauso ging es mir. Noch bevor mein Vater irgendetwas sagte, meinte ich zu wissen, dass meinem mittleren Bruder etwas zugestoßen war. Etwas Schlimmes.
    Mein Vater stand da, und während die Stimme am anderen

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