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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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Ende sprach, straffte sich sein Rücken wieder.
    »Ja«, sagte er.
    »Ich muss morgen trotzdem nach Japan fliegen«, sagte er.
    »Ich weiß nicht«, sagte er.
    Dann legte er den Hörer auf und kam zurück an den Tisch. Sein Gesicht war kreidebleich und wie versteinert.
    »Was ist?«, fragte ich.
    »Er ist tot«, sagte er.
    »Wieso?«, fragte ich.
    »Sie wissen es nicht. Er hat getrunken. Sie wissen es nicht.«
    Er zündete sich eine Zigarette an. Seine Hände zitterten. »Ich muss trotzdem morgen nach Japan fliegen.«
    »Musst du nicht.«
    »Doch. Das ist wichtig.«
    Ich ging in mein Zimmer und legte mich unter die Bettdecke. Ich zitterte. Ich stand wieder auf, ging ins Bad und ließ heißes Wasser in die Wanne. Ich zog mich aus und stieg hinein. Das Wasser war so heiß, dass es kaum auszuhalten war. Doch ich wollte es aushalten und tauchte langsam ein, bis es mich ganz bedeckte und nur mein Gesicht noch draußen war. Meine Ohren füllten sich mit Wasser, ich hörte nur noch das Klopfen und Pulsieren in meinem Körper. Seltsam, was so ein Körper für Geräusche macht, dachte ich. So, als habe er mit der Welt da draußen gar nichts zu tun. Zu dem warmen Pochen in meinem Körper kam ein kurzes, dumpfes Klopfen, das nicht dazugehörte. Ich tauchte auf, mein Vater stand vor der Tür.
    »Ist alles in Ordnung?«
    »Ja.«
    »Kommst du raus?«
    »Gleich.«
    Ich glitt wieder ins Wasser und hörte dem Pulsieren weiter zu, tauchte ganz unter und hielt die Luft an, bis ich nicht mehr konnte. Dann stieg ich aus der Wanne, trocknete mich ab und zog mich an.
    Mein Vater saß im Wohnzimmer und rauchte. Er hatte offenbar nicht damit aufgehört, seit ich gegangen war. Als er mich sah, drückte er die Zigarette aus, kam auf mich zu und nahm mich in den Arm. So standen wir und schwiegen. Ich konnte nicht weinen, ich war leer. Schon wieder.
    Am nächsten Tag flog mein Vater nach Japan.
     
    Längere Zeit war nicht klar, woran mein Bruder gestorben war. Es gab nicht wenige Leute, die mutmaßten, er habe sich das Leben genommen. Meine Brüder und ich glaubten nicht daran. Und mein Vater sowieso nicht. Irgendwann bekamen wir es in nüchternen Zahlen und schwarz auf weiß: Mein Bruder hatte sich aus dem Leben getrunken.
    »Hör dir das an«, sagte mein ältester Bruder am Telefon. »Star des Ostberliner Berlinale-Films vergiftet sich! – Das schreiben sie in dieser widerlichen Dreckszeitung. Und sie schreiben, dass ich in Italien Urlaub mache. Verrückt, oder?«
    »Ja«, sagte ich. »Kannst du denn kommen?«
    »Ja. Sie lassen mich für einen Tag rein.«
    Am Morgen der Beerdigung ging ich zu meinem jüngsten Bruder. Mein Vater war inzwischen aus Japan zurückgekehrt, hatte noch in seinem Büro zu tun und wollte von dort zum Friedhof kommen.
    Die Wohnung war voller Leute. Die Freundin meines Bruders gab den Gästen Kaffee. Sie rauchten und redeten mit gedämpften Stimmen, manche lachten.
    »Es wird alles voller Stasi sein«, sagte einer.
    »Mal sehen, wer sich so blicken lässt«, sagte ein anderer.
    »Wir müssen los«, erklärte mein jüngster Bruder, und wir brachen auf. Als wir mit dem Auto an einem großen Hotel in der Karl-Marx-Allee vorbeikamen, sagte mein Bruder zum Fahrer, er solle anhalten.
    »Warum willst du anhalten?«
    »Ich muss was erledigen.«
    Er stieg aus und verschwand im Intershop vor dem Hotel. Zehn Minuten später kam er zurück und stieg wieder ein.
    »Was hast du da gemacht?«, fragte seine Freundin.
    Er zog eine neue Levi’s unter seinem Mantel vor und grinste.
    »Hast du die etwa geklaut?«
    »Klar. Das war jetzt dran«, sagte mein Bruder. »Strafe muss sein.«
    »Strafe? Für wen?«
    »Egal. Das war jetzt einfach dran.«
     
    Mein Vater wartete schon vor dem Friedhof und schaute nervös auf die Uhr, als er uns kommen sah. Neben ihm stand mit bleichem Gesicht die helle Tänzerin.
    »Ihr seid spät«, sagte er. Er und mein jüngster Bruder umarmten sich flüchtig. Der Platz vor der Friedhofskapelle war voller Leute, manche davon kannte ich. Etwas abseits standen allerdings auch diverse Gestalten, die nicht hierherpassten und die von den Anwesenden mit abschätzigen Kommentaren und scheelen Blicken bedacht wurden. Staatssicherheit.
    Es herrschte eine angespannte und doch seltsam erwartungsvolle Atmosphäre. Wäre dies nicht eine Beerdigung gewesen, hätte man auch glauben können, die Leute seien zu einer Premiere gekommen.
    Dann kam mein ältester Bruder. Die Leute tuschelten, die Stasitypen spannten ihre Rücken.

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