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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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ihn anrufen?«
    »Ich weiß nicht.«
    Im Hintergrund lärmte der Hubschrauber.
    »Nein, ich werde ihn nicht anrufen. Er soll mich anrufen.«
    »Wird er nicht.«
    »Ja, ich weiß.«
     
    Mein Vater sah im Fernsehen den Hubschrauber, der über die Stadt flog und den Namen seines Sohnes hinter sich herzog. Er sah seinen Sohn, wie er in der grellen Sonne der Côte d’Azur Fragen über seinen Film beantwortete. Während er sprach, bewegte mein Vater unmerklich die Lippen, als würde er die Worte mitsprechen. So, als habe er Angst, sein Sohn könnte den Text vergessen. Doch er rief ihn nicht an.
    Der Film meines Bruders bekam in Cannes keinen Preis, aber dafür in Bayern. Im Fernsehen sah ich, wie der stiernackige und rotgesichtige bayerische Ministerpräsident meinem Bruder eine Porzellanfigur und einen Scheck überreichte. Der trat ans Mikrophon und erklärte, warum er den Preis und das Geld aus den Händen eines Mannes annahm, dessen politische Haltung der seinen entgegengesetzt sei. »Es ist ein Widerspruch«, sagte mein Bruder. Doch genau darum gehe es ja auch in seinem Film. »Es geht um Kriminalität als reinste Form des Aufbegehrens gegen Macht und Geld. Es ist ein Film gegen den Staat, den ich mit dem Geld des Staates gemacht habe.« Im Saal wurde es unruhig, die Leute tuschelten, das stete Lächeln im roten Gesicht des stiernackigen Ministerpräsidenten gefror, und mein Herz klopfte schneller. Mein Bruder redete ungerührt weiter.
    »Ich nehme das Geld aus den Händen des Staates, gegen den ich arbeite. Das ist ein Widerspruch, doch ich brauche das Geld, um meinen nächsten Film machen zu können, mit dem ich Widersprüche wie diese beschreiben will. Denn die Widersprüche sind die Hoffnung.« Das Murmeln im Saal wurde lauter. »Ich danke der Filmhochschule der DDR für meine Ausbildung«, sagte mein Bruder. Aus dem Murmeln wurden Pfiffe und Buh-Rufe. »Geh doch wieder rüber in den Osten!«, rief jemand. Unbeeindruckt vom Tumult wiederholte mein Bruder den Satz. »Ich danke der Filmhochschule der DDR für meine Ausbildung. Ich danke den Verhältnissen für ihre Widersprüche und den Helden meines Films für ihr Beispiel.« Mein Bruder verließ das Rednerpult, der stiernackige Ministerpräsident trat ans Mikrophon und bedankte sich mit einem süffisanten Grinsen im feisten Gesicht bei meinem Bruder dafür, dass er sich als lebendiges Beispiel der bayerischen Liberalität zur Verfügung gestellt habe. Applaus. Abgang. Nach dem Eklat teilte die bayerische Regierung meinem Bruder mit, dass sie ihn nicht länger als Gast betrachte und er seine Hotelrechnung gefälligst selbst bezahlen solle. Der Staat war eingeschnappt, mein Bruder hatte gewonnen, und ich bewunderte ihn.
    »Hast du deinen Bruder im Fernsehen gesehen?«, fragte mein Vater am Telefon. »Also das mit dem Staat und den Widersprüchen – das war mir zu hoch«, sagte er. »Doch dass er sich bei der DDR bedanken würde, hätte ich ihm nicht zugetraut.«
    »Er hat sich bei der Filmhochschule bedankt.«
    »Jaja.«
    »Wirst du ihn anrufen?«
    »Warum sollte ich?«
    »Um ihm zu gratulieren.«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Hat er mir gratuliert, als ich den Karl-Marx-Orden bekommen habe?«
    »Weiß nicht.«
    »Hast du mir gratuliert?«
    »Nein.«
    »Siehst du?«
    Ich schwieg betreten. Ich wusste ja nicht einmal, dass mein Vater diesen Orden bekommen hatte. Und selbst wenn ich es gewusst hätte – es hätte mich nicht interessiert.
    Zum ersten Mal legte mein Vater den Hörer früher auf als ich.

Neun
    E s wurde wieder Sommer – ein unerträglich heißer und drückender Sommer, durch den sich die Leute mit jedem Tag langsamer bewegten. An den Wochenenden zwängten sie sich in ihre glühenden Autos oder stiegen in überfüllte S-Bahnen, um die Seen zu bevölkern, die am Stadtrand lagen. Sie bildeten sich ein, dort glücklich zu sein, und vielleicht waren sie es auch. Ich war es nicht, denn ich war allein, und der Sommer verachtete die Einsamen – davon war ich fest überzeugt. Deshalb hielt ich mich von ihm fern, blieb an meinen freien Tagen zu Hause, ließ die Rollos herunter, spielte auf meiner Gitarre dunkelgraue Moll-Akkorde und wünschte mir den Herbst.
    Mein Wunsch ging in Erfüllung – in der Nacht, bevor ich mit Katja an die Ostsee fahren wollte, fing es an zu regnen. Ich zog die Rollos hoch, öffnete alle Fenster, setzte mich im Schlafanzug auf meinen Balkon und ging erst ins Bett, als der Wind kam und mir den Regen ins Gesicht

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