Ab jetzt ist Ruhe
Tropfen in waagerechten Rinnen von der Scheibe getrieben wurden. Mich fröstelte, ich zog meine Jacke an, setzte mich neben Katja, betrachtete die Schuhe der Leute, die an uns vorbeigingen, und zählte ihre Träger.
Der Zwölfte trug ein paar zerschlissene, ehemals weiße Turnschuhe und blieb plötzlich vor uns stehen. Ich sah nach oben. Die Schuhe gehörten zu einem Parka mit Pferdeschwanz – nicht besonders groß, nicht besonders kräftig, nicht hässlich, nicht hübsch. Er wäre mir auf der Straße nicht aufgefallen. Er sah genauso aus wie ein Zwölfter.
»Katja?«
Meine Freundin schaute auf und kniff die Augen zusammen, als hätte sie Mühe, den Mann zu erkennen. Doch plötzlich klärte sich ihr Gesicht, und sie strahlte.
»Hans!« Sie sprang auf und fiel ihm um den Hals, als sei er gerade aus dem Krieg zurückgekehrt. Ich erfuhr, dass die beiden zusammen an der Kunsthochschule studiert und sich jahrelang nicht gesehen hatten. Hans hatte Bildhauer werden wollen, musste seinen Traum aber wegen einer chronischen Sehnenscheidenentzündung begraben und gab jetzt Zeichenkurse an der Volkshochschule. Er war mit Freunden auf dem Weg in das kleine Ostseedorf, in dessen Nähe auch wir unsere Ferien verbringen würden. Ich freute mich. Ich mochte diesen Zwölften, und mir gefiel der feste Händedruck, mit dem er sich von mir verabschiedete.
Als unser Zug in den Bahnhof fuhr, regnete es immer noch. Wir holten unsere Fahrräder aus dem Gepäckwagen, luden unsere Rucksäcke auf und fuhren los. Es waren nur zwanzig Kilometer bis zu unserem Dorf, doch wir hatten Gegenwind, und der kalte Regen peitschte uns ins Gesicht – wir kamen nur mühsam auf der Landstraße voran. Immer wenn ein Auto an uns vorbeiraste und uns vollspritzte, brüllte Katja ihm üble Flüche hinterher. Es waren viele Autos, und meine Freundin kannte viele Flüche.
Klatschnass und durchgefroren kamen wir an. Katja hatte den Tipp für dieses Quartier von einem Freund bekommen, allerdings hatte er ihr offenbar verschwiegen, was uns erwarten würde. Die Vermieterin – eine vergrämte Frau unbestimmten Alters – führte uns zu einem Schuppen, der von hohen Kiefern umstanden war. Er beherbergte zwei Betten, einen Tisch mit zwei Stühlen, einen Schrank, ein Waschbecken und einen Gaskocher, der auf einem wackligen Regal stand. Es gab ein winziges Fenster, durch das sich eine vage Ahnung von Tageslicht quälte, und der Geruch nach modrigem Holz erinnerte mich an den Dachboden, auf dem ich in Budapest eine Nacht verbracht hatte.
»Plumpsklo is da draußen«, sagte die Frau und wies mit ihrem schlechtgelaunten Finger in eine unbestimmte Richtung. »Und Klopapier is nich.« Sie kassierte die Miete im Voraus, legte den Schlüssel auf den Tisch und verschwand.
Wir setzten unsere Rucksäcke ab, zogen unsere nassen Klamotten aus, legten sie über die Stühle und tauschten sie gegen trockene Sachen. Dann legten wir uns auf die Betten und starrten die Decke an, von der eine nackte Glühbirne baumelte.
»Es ist besser als gar kein Dach überm Kopf«, sagte Katja.
»Und zehn Mark pro Nacht ist geschenkt«, sagte ich.
»Und woanders ist Krieg«, sagte Katja.
»Und da draußen ist das Meer«, sagte ich.
»Genau.« Katja sprang auf. »Lass uns hier abhauen und ans Meer gehen!«
Der Regen hatte inzwischen nachgelassen, es tröpfelte nur noch. Wir nahmen unsere Räder und fuhren die abschüssige Landstraße hinunter ins Dorf. Katja schmetterte ein Lied, in dem branntweintolle und heimatlose Seeräuber den Himmel anheulten, er möge ihnen doch die See lassen. Sie konnte nicht besonders gut singen, doch das spielte keine Rolle. Sie tat, wozu sie Lust hatte. Sie konnte einfach nur sein, ohne darüber nachzudenken, wer sie gerade war. Ich schaute immer nach, wer ich war, und meist gefiel mir nicht, was ich sah. Ich beneidete sie.
Und dann standen wir am Meer. Es war genauso, wie es sein sollte: Der Wind zauste die grauen Wellen, Möwen schrien, und es roch nach Seetang. Der Strand war fast menschenleer, wir liefen ein Stück, und als es wieder anfing zu regnen, kehrten wir um, setzten uns in eine Kneipe, bestellten Grog und tranken uns in einen leichten Rausch. Ich klaute vom Kneipenklo eine Rolle Toilettenpapier, und als es Abend wurde, fuhren wir zurück, legten uns in unsere Betten und schliefen sofort ein.
Am nächsten Morgen regnete es zwar nicht mehr, doch der Himmel war bleiern. Wir blieben liegen, bis uns der Hunger aus den Betten trieb, dann fuhren wir
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