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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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um.
    »Du schleppst auch immer noch deine Kindheit mit dir rum, oder?«
    »Wieso ›auch‹?«
    »Ich habe manchmal das Gefühl, ich bin seit zehn Jahren kein Jahr älter geworden. Ich bin jetzt fünfundzwanzig und benehme mich wie fünfzehn.«
    »Wieso?«
    »Keine Ahnung, ist eben so.« Mein Bruder seufzte. »Ich verliebe mich auch immer in Frauen, die älter sind als ich.«
    »Schon wieder neu?«
    »Ja, schon wieder neu.«
    Seit ich die Musik ausgemacht hatte, leerte sich die Wohnung langsam. Auch Katja hatte schon den Mantel an, als sie im Arm des großen schwarzhaarigen Mannes in der Tür erschien. Sie löste sich von ihm und kam schwankend zu uns herüber.
    »War schön bei dir«, sagte sie und grinste schief. »Bisschen voll, aber schön.«
    »Du bist auch bisschen voll, aber schön«, sagte mein Bruder.
    »Jaja, quatsch du nur.« Katja umarmte mich und wankte zurück zu ihrem Begleiter. Mit ihr verließen auch die meisten ihrer Freunde meine Wohnung.
    Auf der Couch fläzte der dicke Wanja und hielt einem Mädchen mit langen geflochtenen Zöpfen einen Vortrag über Frank Zappa, und der schüchterne Uli saß auf einem Stuhl und blätterte in einem Bildband. Ich legte die Schallplatte von Billy Cobham auf, die ich geschenkt bekommen hatte. Mein Bruder fingerte seine letzte Zigarette aus der Schachtel, knüllte die Packung zusammen und zielte auf meinen Papierkorb. »Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?« Er traf nicht.
    »Na klar«, sagte ich und gab ihm Feuer. »Wie früher.«
    Wir schwiegen und hörten Musik. Irgendwann gingen auch der dicke Wanja und das Zopfmädchen. Der schüchterne Uli stellte den Bildband ins Bücherregal und verabschiedete sich ebenfalls.
    Ich ging in die Küche. Irgendjemand hatte aufgeräumt, das Geschirr und die Gläser abgewaschen, die Aschenbecher geleert und die Flaschen zusammengestellt. Ich öffnete das Fenster und atmete die kalte Nachtluft ein. Es hatte aufgehört zu regnen. Mein Kopf tat ein bisschen weh vom Rauch und vom Wein, doch es war nicht schlimm. Eigentlich war sogar alles gut, und ich war auch nicht mehr traurig. Ich gab meinem Bruder eine Decke, putzte mir die Zähne und sah nicht in den Spiegel.
    »Weißt du noch, was sie gemacht hat, wenn sie uns ins Bett gebracht hat?«, fragte mein Bruder, als er neben mir lag. Natürlich wusste ich das noch. Jeder immer ein Wort: Ab – jetzt – ist – Ruhe.
     
    Als ich ein paar Tage nach meinem Geburtstag Wäsche waschen wollte, fand ich in der Tasche meiner Jeans die Kassette, die der Gitarrist mit der großen Nase mir gegeben hatte. Ich legte sie in meinen Kassettenrekorder. Eine zarte Mädchenstimme sang ein Lied, das ich aus dem Radio kannte. Es gefiel mir. Und mir gefiel die Idee, Sängerin einer Band zu sein. Zwar hatte ich schon ein paar Mal vor Leuten gesungen, doch so allein auf der Bühne, fühlte ich mich immer irgendwie verloren. Die Stimme des Mädchens war einschüchternd schön, und obwohl ich wusste, dass ich nicht annähernd so gut singen konnte, rief ich den Gitarristen mit der großen Nase an.
    Die drei Jungs, die außer ihm zur Band gehörten, saßen auf der Couch in seinem Wohnzimmer und musterten mich skeptisch. Ich war aufgeregt, und meine Hände schwitzten, als ich die Gitarre aus dem Koffer holte.
    »Hast du denn schon mal vor Publikum gesungen?«, fragte mich der Gitarrist mit der großen Nase und stellte mir einen Stuhl hin.
    »Ein paar Mal«, antwortete ich. »Aber nichts Besonderes.«
    »Na, dann lass mal hören«, sagte ein etwas untersetzter Typ mit Vollbart, lehnte sich lässig zurück in das Sofapolster und verschränkte die Arme vor der Brust. In der Mitte saß ein blasser Seitenscheitel, der sich mehr für meine Gitarre zu interessieren schien als für mich. Er beugte sich vor, studierte fingerknabbernd den Aufkleber im Schallloch, um sich dann mit gelangweiltem Blick ebenfalls zurückzulehnen. Nur der Langhaarige neben ihm grinste mich breit an. Ich schaute zu dem Gitarristen mit der großen Nase, der neben dem Sofa stand. Er nickte mir zu, ich rieb meine verschwitzten Hände an meiner Hose trocken und fing an zu spielen. Das erste Lied war ein irischer Protestsong mit viel Stacheldraht und einer zarten Melodie, deren Töne mir jedoch manchmal abhanden kamen. Beim Singen studierte ich die Schuhe der Jungs: normale Schuhe, Turnschuhe, Kletterschuhe – nichts Besonderes. Als ich fertig war, sah ich auf. »Das war doch ganz gut«, sagte der Gitarrist mit der großen Nase, und die

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