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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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Schweißgeruch irgendwann nicht mehr war, doch das unangenehme Gefühl im Rücken blieb. Es war ein Gefühl, als würde es ziehen – nicht stark, doch unablässig. Lästig. Trotzdem tat er mir irgendwie leid. Er musste den ganzen Tag da stehen und hatte nichts zu tun. Ich fragte mich, woran er wohl dachte und was er erzählte, wenn er nach der Schicht von der Arbeit nach Hause kam und seine Frau ihn fragte, wie sein Tag gewesen sei. Doch vielleicht hatte er auch gar keine Frau, ging nach Feierabend in seine kleine Einzimmer-Neubauwohnung und war einsam. Ich nahm mir vor, bei nächster Gelegenheit nachzuschauen, ob er einen Ehering trug. Ich setzte meinen Text, brachte die fertige Spalte zum Meister und kehrte zu meiner Maschine zurück. Da stand mein Bewacher und hielt seine Hände vor dem Unterleib verschränkt wie ein Fußballer vor dem Freistoß – ich konnte nicht sehen, ob da ein Ring war, und musste mir etwas anderes einfallen lassen, um es herauszufinden.
    Irgendwann musste ich eine neue Bleistange in den Schmelzkessel meiner Maschine hängen. Die Stangen waren ziemlich schwer, es erforderte einige Geschicklichkeit, sie zu befestigen. Ich tat so, als hätte ich große Mühe damit, und mein Plan ging auf. Mein Bewacher eilte mir zu Hilfe, nahm mir die Stange ab und hing sie ein. Er trug keinen Ehering. Ich bedankte mich, und er nickte höflich. Eigentlich sah er gar nicht so übel aus. Hätte er nicht die falschen Klamotten, die falsche Frisur und den falschen Beruf gehabt … wer weiß.
    Während der nächsten Tage musste ich keine Bleistange mehr einhängen, er erledigte das. Bis zu dem Tag, da er nicht mehr erschien. Vielleicht war er krank geworden oder wurde woanders gebraucht – im Grunde wäre es mir egal gewesen, wenn er nicht durch einen Typ ersetzt worden wäre, der mir noch unangenehmer im Nacken saß. Er roch zwar nicht nach Schweiß, doch dafür nach unfassbar schlechtem und vermutlich ebenso billigem Rasierwasser. Ich hatte das Gefühl, meine Nasenschleimhäute würden verätzt, so penetrant stank das Zeug. Also atmete ich fortan durch den Mund und hing meine Bleistangen wieder selber ein.
    Am Ende der Woche gab es Ärger. Einer meiner Kollegen hatte den Satz »Der Parteitag trat in die Mittagspause« durch die Bemerkung »Es gab Erbsensuppe« ergänzt. Der Korrektor hatte in dem Satz keinen Fehler gefunden, der Redakteur hatte ihn überlesen, und die Zeitung ging in den Druck. Der Übeltäter bekam ein Disziplinarverfahren, wurde streng gerügt und musste eine Stellungnahme schreiben. Darin erklärte er, dass Erbsensuppe doch sehr nahrhaft sei und sich die Leser der Zeitung bestimmt darüber freuten, dass die Genossen beim Parteitag das Gleiche zu essen bekämen wie die werktätige Bevölkerung in der Betriebskantine. Daraufhin wurde ihm auch die Parteitagsprämie gestrichen. Wir legten zusammen, er bekam die Prämie von uns, und es war in Ordnung.
     
    In Ordnung fand ich auch, dass ein paar Wochen später der Name meines ältesten Bruders in der Zeitung erschien, für die ich arbeitete. Fünf Jahre nachdem er das Land verlassen hatte, sprach das Land wieder über ihn – allerdings ohne zu erwähnen, dass er es verlassen hatte.
    Mein Bruder hatte einen Film gemacht, der überall gute Kritiken bekam und jetzt zu einem großen Festival nach Cannes eingeladen war. Doch während die Zeitungen im Westen den Film als ein »deutsches Kinoereignis« lobten, wurde der Name meines Bruders von meiner Zeitung nur in einer kurzen Notiz erwähnt.
    Der Film erzählte die Geschichte einer Jugendbande, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin ihr Unwesen trieb. Die Stadt war verwundet und geteilt, das Chaos gebar Anarchie, und die Anarchie gebar Verbrechen. Der Chef der Bande war erst siebzehn und wollte sein wie Al Capone. Er überfiel Banken und raubte Geschäfte aus, bis es schiefging und er zum Tode verurteilt und durch das Fallbeil hingerichtet wurde.
    Mein Bruder war in Cannes und rief mich ein paar Stunden vor der Premiere an. »Hörst du den Hubschrauber?«, rief er ins Telefon. »Er fliegt über die Stadt und zieht ein Transparent mit meinem Namen hinter sich her. Das ist doch verrückt. Bin ich noch der Dissidentendichter aus Ostberlin, oder bin ich jetzt ein berühmter Regisseur?« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und er erwartete auch keine Antwort darauf.
    »Weiß der Alte, dass mein Film hier läuft?«
    »Es steht in der Zeitung, bestimmt weiß er es.«
    »Meinst du, ich sollte

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