Abaddons Tor: Roman (German Edition)
worden waren, hatten diese Eindrücke allerdings weitgehend aus ihren Erinnerungen getilgt. Da sie nun an so vielen Stellen gleichzeitig verletzt wurde, reagierte sie mit Benommenheit und zielloser Wut. Es war nicht fair, dass sie solchen Schmerzen ausgesetzt wurde. Sie wollte die Druckliege anschreien, die sie im Stich gelassen hatte, und sie wollte die Decke verprügeln, gegen die sie geprallt war, obwohl sie noch nie im Leben jemanden geschlagen hatte und kaum die Arme bewegen konnte.
Als sie sich endlich ohne Schwindelgefühl rühren konnte, suchte sie Hilfe und stellte fest, dass es auf dem Korridor vor ihrer Kabine noch viel schlimmer aussah.
Nur wenige Meter vor ihrer Tür war ein junger Mann zerschmettert worden. Er war zerquetscht, als sei ein böser Riese über ihn hinweggetrampelt und habe ihn mit der Hacke zermalmt. Der Bursche war zerfetzt und verstümmelt und kaum noch als menschlicher Leichnam erkennbar. Blut war auf den Boden und die Wände gespritzt und schwebte wie ein Schwarm grässlicher Christbaumkugeln um ihn herum.
Anna rief um Hilfe. Ein angstvoller, gurgelnder Schrei antwortete ihr. Weiter unten auf dem Korridor lebte noch jemand. Sie stieß sich vorsichtig vom Türrahmen ihrer Kabine ab und schwebte der Stimme entgegen. Zwei Kabinen weiter unten lag ein Mann halb in der Druckliege und halb daneben. Anscheinend war er gerade beim Aufstehen gewesen, als der Bremsschub eingesetzt hatte. Vom Becken an abwärts war alles verdreht und gebrochen. Der Oberkörper lag noch auf dem Bett, und er winkte ihr schwach mit schmerzverzerrtem Gesicht.
»Helfen Sie mir«, keuchte er, dann spuckte er eine Kugel aus Blut und grünem Schleim aus, die langsam davontrieb.
Anna schwebte hoch genug hinauf, um die Com-Tafel an der Wand benutzen zu können, ohne das Schultergelenk zu strapazieren. Das Gerät war tot. Das einzige Licht kam aus den Lampen, die angeblich nur bei Notfällen und Stromausfällen in Betrieb waren. Nichts sonst schien zu funktionieren.
»Helfen Sie mir«, verlangte der Mann noch einmal. Die Stimme war schwächer geworden, das Gurgeln lauter. Anna kannte ihn. Es war Alonzo Guzman, ein berühmter Dichter aus dem südamerikanischen Sektor der UN. Ein Vertrauter des Generalsekretärs, wie jemand ihr verraten hatte.
»Das werde ich tun«, versprach Anna ihm und gab sich nicht einmal die Mühe, die Tränen zu unterdrücken, die sie auf einmal blendeten. Sie wischte sich die Augen an der Schulter ab und sagte: »Ich muss jemanden suchen. Meine Arme sind verletzt, aber ich suche jemanden.«
Der Mann wimmerte leise. Mit den Zehen stieß Anna sich ab und segelte in den Korridor zurück, vorbei an dem Blutbad, um jemanden zu finden, der nicht verletzt war.
Dies war der Teil, der nie in den Gemälden der Untergangspropheten auftauchte.
Sie liebten die Szenen, in denen Gott schreckliche Rache an der sündigen Menschheit nahm. Sie wollten zeigen, dass Gottes auserwähltem Volk nichts zustoßen würde, sie wollten glücklich vor der ganzen Welt als die einzig Rechtschaffenen dastehen. Die Folgen übersahen sie. Nie zeigten sie weinende Menschen, die zerschmettert und sterbend in den Lachen ihrer eigenen Körperflüssigkeiten lagen. Hier aber waren junge Männer zu formlosen roten Haufen zerquetscht. Eine junge Frau war in der Mitte durchgeschnitten worden, weil sie gerade durch eine Luke geschwebt war, als die Katastrophe begonnen hatte.
Das war Armageddon. So sah es aus. Blut, zerfetzte Körper, Hilferufe.
An der nächsten Kreuzung verließen Anna die Kräfte. Die Schmerzen waren zu stark, um sich weiterzubewegen. Außerdem war in allen vier Richtungen nichts außer gewaltsam gestorbenen Menschen zu entdecken. Sie ertrug es nicht. Einige Minuten lang schwebte Anna mitten im Raum, dann trieb sie sachte zur Wand und blieb dort hängen. Bewegung. Das Schiff bewegte sich wieder. Sehr langsam nur, aber es reichte aus, um sie an die Wand zu drücken. Sie stieß sich ab und schwebte wieder. Demnach beschleunigte es nicht weiter.
Ihr war bewusst, dass dieses Interesse an den relativen Bewegungen des Schiffs nur ein Versuch war, sich von der grässlichen Szenerie abzulenken. Wieder musste sie weinen. Die Vorstellung, dass sie von dieser Reise wahrscheinlich nie mehr nach Hause zurückkehren würde, bedrückte sie sehr. Zum ersten Mal, seit sie am Ring eingetroffen war, sah sie eine Zukunft vor sich, in der sie Nami nie wieder in den Armen halten würde. Nie mehr ihr Haar riechen, nie mehr Nono küssen,
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