Abaddons Tor: Roman (German Edition)
ihre Gedanken wieder völlig klar. Die letzten Nebelschleier des Traums oder des Wahns verschwanden, und sie sah sich um. Dies war der Zugang zu der Ausrüstung, die sie brauchte. Im Schiff herrschte das Chaos. Das war die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte. Sie zog die Karte vom Band ab und schob sie sich in die Tasche, dann sah sie sich abermals nervös um.
Niemand hatte etwas bemerkt.
Sie leckte sich über die Lippen.
»Ich brauche irgendetwas, um das hier zu knacken«, verkündete der junge Mann. »Der Kopf des Bolzens ist abgeschliffen. Ich bekomme ihn nicht heraus.«
Die ältere Frau wandte sich fluchend an Melba.
»Haben Sie etwas, mit dem man das hinbekommt?«
»Nicht hier«, erwiderte Melba. »Aber ich glaube, ich weiß, wo wir einen Bohrer bekommen.«
»Dann beeilen Sie sich, ehe die Luft zu dick wird.«
»Gut. Machen Sie inzwischen ohne mich weiter, ich bin gleich wieder da«, log Melba.
24 Anna
Die Eschatologie war schon immer die theologische Disziplin gewesen, die Anna am wenigsten gemocht hatte. Wenn jemand sie nach Armageddon gefragt hatte, dann hatte sie ihren Gemeindemitgliedern erzählt, Gott selbst habe sich in dieser Hinsicht nicht sehr klar ausgedrückt, und deshalb sei es nicht sinnvoll, sich darüber Sorgen zu machen. Man müsse eben glauben, dass Gott sein Bestes tun werde, und die Angst vor seiner Rache an den Bösen sei kein guter Grund, ihn anzubeten.
In Wirklichkeit stand sie mit den meisten alten und neuen Weltuntergangsszenarien auf Kriegsfuß. Die Mutmaßungen der Theologen waren nicht besser oder schlechter als die aller anderen Menschen. Ihre Einwände bezogen sich vor allem auf die allzu große Schadenfreude über die Vernichtung der Bösen, die sich manchmal in die Predigten einschlich. Dies galt ganz besonders für einige Weltuntergangssekten, deren Schriften voller Bilder von Armageddon waren. Bilder, die verzweifelte Menschen zeigten, wie sie vor dem formlosen, brennenden Weltuntergang davonliefen, der hinter ihnen die ganze Welt erfasste, während selbstzufriedene Gläubige – natürlich stets die Angehörigen der eigenen, einzig wahren Religion – aus sicherer Entfernung dem göttlichen Zerstörungswerk zusahen. Anna konnte nicht verstehen, wie irgendjemand eine solche Darstellung erfreulich finden konnte, statt sie als Tragödie zu betrachten.
Sie wünschte sich, sie könnte diesen Gläubigen die Thomas Prince zeigen.
Als es geschehen war, hatte sie gelesen. Das Handterminal hatte, an ein Kissen gelehnt, auf ihrem Brustbein gestanden, sie hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Eine Dreitonsirene hatte vor hoher G-Belastung gewarnt, doch das Signal war zu spät gekommen. Sie wurde bereits so fest auf die Druckliege gequetscht, dass sie durch zwanzig Zentimeter Druckgel das Plastik des Unterbaus spüren konnte. Es schien ewig zu dauern, während in Wirklichkeit wohl nur ein paar Sekunden vergingen. Das Handterminal war auf ihren Oberkörper herabgerutscht und hatte mehr gewogen als Nami bei ihrer letzten Umarmung. Auf dem Brustbein war eine Serie blauschwarzer Blutergüsse entstanden, dann war das Handterminal so fest gegen ihr Kinn geprallt, dass die Haut aufgeplatzt war. Das Kissen hatte unterdessen wie ein zehn Kilo schwerer Sandsack auf ihren Bauch gedrückt, bis sie die Magensäure im Mund geschmeckt hatte.
Am schlimmsten waren die Schmerzen in den Schultern gewesen. Beide Arme waren flach auf das Bett gepresst und vorübergehend ausgerenkt worden. Als die endlosen Sekunden des Bremsvorgangs vorbei waren, hatten die Gelenke wieder die richtigen Positionen eingenommen. Die Schmerzen waren sogar noch schlimmer gewesen als bei der Überdehnung. Das Gel der Liege, das über die Maximalwerte hinaus beansprucht worden war, hatte sie nicht auf die vorgesehene Art und Weise aufgefangen. Vielmehr war es zu der ursprünglichen Form zurückgeschnellt und hatte sie in Richtung der Kabinendecke geschleudert. Als sie versuchte, die Hände nach vorn zu nehmen, um dem Aufprall zu begegnen, rasten die Schmerzen durch die Schultern. Deshalb trieb sie hilflos nach oben und prallte mit dem Gesicht gegen die Decke. Ihr Kinn hinterließ einen blutigen Streifen auf dem mit Stoff bedeckten Schaum.
Anna war ein sanftmütiger Mensch. Sie hatte noch nie im Leben gekämpft und war noch nie an einem schweren Unfall beteiligt gewesen. Die schlimmsten Schmerzen, die sie je erlitten hatte, waren die Wehen vor der Geburt gewesen. Die Endorphine, die danach freigesetzt
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