Abaddons Tor: Roman (German Edition)
nie mehr zu ihr in das warme Bett steigen und sie umarmen. Der Verlust des alten Lebens schmerzte sogar noch mehr als alle körperlichen Verletzungen, die sie erlitten hatte. Dieses Mal wischte sie die Tränen, die sie blendeten, nicht ab. Es war gut, wie es war. Es gab nichts, was sie hier sehen wollte.
Auf einmal packte sie jemand von hinten. Erschrocken fuhr sie herum und rechnete damit, neue Grässlichkeiten zu erblicken.
Es war Tilly.
»Gott sei Dank«, sagte die Frau und umarmte Anna fest genug, um neue Schmerzwellen durch deren Schultern zu jagen. »Ich war in Ihrer Kabine und sah das Blut an den Wänden. Sie waren nicht da, und direkt vor der Tür lag ein Toter …«
Anna konnte die Umarmung nicht erwidern und beschränkte sich darauf, die Wange an Tillys Gesicht zu schmiegen. Dann hielt Tilly sie auf Armeslänge vor sich fest, ließ sie aber nicht los. »Alles in Ordnung?« Besorgt betrachtete sie die Platzwunde auf Annas Kinn.
»Meinem Gesicht ist nichts passiert, das ist nur eine kleine Platzwunde. Aber meine Arme tun weh. Ich kann sie kaum bewegen. Wir brauchen Hilfe. Alonzo Guzman liegt schwer verletzt in seiner Kabine. Es ist wirklich schlimm. Wissen Sie, was passiert ist?«
»Mir ist bisher noch niemand begegnet, der es weiß.« Tilly drehte Anna zuerst in die eine und dann in die andere Richtung und musterte sie kritisch. »Bewegen Sie die Hände. Gut. Beugen Sie die Ellenbogen.« Sie betastete Annas Schultern. »Die sind nicht ausgerenkt.«
»Zuerst dachte ich es«, erwiderte Anna, nachdem sie unter Tillys Berührung schmerzvoll gekeucht hatte. »Alles andere tut mir auch weh. Aber wir müssen uns beeilen.«
Tilly nickte und nahm einen rot-weißen Rucksack von der Schulter ab. Er war voller Plastikpäckchen, die mit winzigen schwarzen Buchstaben beschriftet waren. Tilly zog ein paar heraus, las die Aufschriften und steckte sie wieder weg. Nach einigen Versuchen löste sie drei kleine Ampullen aus den Verpackungen.
»Was ist das?«, wollte Anna wissen, doch Tilly verpasste ihr wortlos drei Injektionen.
Auf einmal verspürte Anna eine große Euphorie. Die Schultern taten nicht mehr weh. Nichts tat ihr mehr weh. Sogar die Angst, sie werde ihre Familie nie mehr wiedersehen, war nur noch ein kleines, fernes Problem.
»Ich habe geschlafen, als es passiert ist«, erklärte Tilly. Sie warf die leeren Ampullen in die Erste-Hilfe-Tasche. »Aufgewacht bin ich von dem Gefühl, ich sei von einem Gabelstapler überfahren worden. Ich dachte, meine Rippen seien gebrochen, und konnte kaum noch atmen. Dann habe ich diese Tasche aus dem Notfallabteil in meiner Kabine genommen.«
»Ich habe gar nicht daran gedacht, dort nachzusehen«, erwiderte Anna überrascht. Sie konnte sich halbwegs erinnern, dass sie vor Schmerzen desorientiert gewesen war, aber jetzt fühlte sie sich großartig. Besser als je zuvor. Konzentriert und unglaublich aufmerksam. Was für eine Dummheit, nicht an die Notvorräte zu denken. Dies war doch ein Notfall. Am liebsten hätte sie sich mit der flachen Hand auf die Stirn geschlagen, weil sie so dumm war. Tilly hielt schon wieder ihre Arme fest. Warum tat sie das? Sie hatten doch so viel zu tun. Sie mussten die Sanitäter finden und zu dem Dichter schicken.
»He, Mädchen«, warnte Tilly. »Es dauert einen Moment, bis der erste Rausch nachlässt. Ich habe eine ganze Minute lang versucht, einen Haufen rote Pampe wiederzubeleben, bis mir bewusst wurde, wie aufgedreht ich war.«
»Was für ein Zeug ist das?« Anna drehte den Kopf hin und her, bis Tillys Gesicht vor ihren Augen verschwamm.
Tilly zuckte mit den Achseln. »Amphetamine und Schmerzmittel in militärischer Stärke, würde ich sagen. Ich habe Ihnen für alle Fälle auch ein Mittel gegen Entzündungen gegeben.«
»Sind Sie Ärztin?« Anna staunte, wie klug Tilly war.
»Nein, aber ich kann die Anleitungen auf den Packungen lesen.«
»Na gut.« Anna nickte ernst. »Na gut.«
»Lassen Sie uns jemanden auftreiben, der uns sagen kann, was hier los ist«, schlug Tilly vor. Sie zog Anna durch den Korridor hinter sich her.
»Danach muss ich aber meine Leute suchen.« Trotzdem folgte sie ohne zu zögern.
»Vielleicht habe ich Ihnen zu viel verpasst. Nono und Nami sind zu Hause in Moskau.«
»Nein, meine Leute. Meine Gemeinde. Chris und dieser andere Mann und die Marinesoldatin. Sie ist wütend, aber ich glaube, ich kann ihr gut zureden. Ich muss sie finden.«
»Ja«, überlegte Tilly. »Die Dosis war wirklich etwas zu hoch. Wir
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