Abaddons Tor: Roman (German Edition)
Ich habe gesehen, wie man Sie hergebracht hat. Helfen Sie mir, dann helfe ich Ihnen. Amnestie. Ich kann Ihnen eine Amnestie verschaffen. Und Schutz. Mit Ceres gibt es kein Auslieferungsabkommen.«
Wie sie wusste, entsprach das nicht der Wahrheit. Fast hätte die Verärgerung sie bewegt, ihm zu antworten. Sie hätte sich beinahe bewegt . Aber nur beinahe. Der Boden bestand aus einer durchgehenden Kunststofffläche, die in Richtung des Abflusses leicht abschüssig war. Wenn ihr Kopf wie jetzt auf dem Boden lag, war der Abfluss kaum mehr als eine schwarze Linie in einem weißen Feld. Eine Krähe auf einem gefrorenen See.
»Man hat mich nach einer illegalen Meuterei festgesetzt«, sagte der Mann. »Wir können uns gegenseitig helfen.«
Sie war nicht sicher, ob man ihr überhaupt helfen konnte, oder wenn, wohin die Hilfe dann führen würde. Sie erinnerte sich, einmal etwas gewollt zu haben. Holden. Genau. Sie hatte ihm den Tod und noch Schlimmeres gewünscht. Ihre Fantasien waren so stark wie Erinnerungen. Nein, sie hatte es getan. Alle hassten ihn jetzt, sie wollten ihn töten. Aber etwas anderes war schiefgegangen, und sie hatten angenommen, Julie habe es getan.
Sie war so nahe dran gewesen. Wenn sie die Rosinante vernichtet hätte, dann hätte man sie nie entdeckt. Wäre sie auf dem Schiff gestorben, dann hätte man nichts mehr entdecken können, und Holden wäre als der überhebliche und selbstgerechte Dreckskerl, der er ja auch war, in die Geschichte eingegangen. Ihr Vater hätte es erfahren. Obwohl er so weit entfernt war, hätte er gehört, was geschehen war, und vermutet, dass sie es getan hatte. Seine Tochter. Die Einzige, auf die er doch noch stolz sein konnte.
Ihr fiel auf, dass der andere Gefangene verstummt war. Das war ihr nur recht. Er ging ihr auf die Nerven. Ihr taten die Knie weh und die Schläfe, weil sie auf den Boden drückten. Auch im Bett konnte man sich wund liegen. Sie fragte sich, wie lange die Haut brauchte, um sich aufzulösen, wenn man sich einfach nicht mehr rührte. Wahrscheinlich dauerte es ziemlich lange, und sie war im Grunde völlig gesund. Sie fragte sich, wie lange sie sich nicht mehr bewegt hatte. Wahrscheinlich eine lange Zeit. Darüber empfand sie einen eigenartigen Stolz.
Wieder ertönten Schritte. Dieses Mal kamen mehrere Menschen. Die Plastikstiefel polterten, aber es waren auch hellere, klickende Töne darunter, als berührten die Krallen eines Hundes die Fliesen. Ein wenig Neugierde flackerte auf, winzig wie eine Kerze in einer Kathedrale. Die Stiefel kamen, und mit ihnen kamen blaue Pumps. Die Fußfesseln einer älteren Frau. Die Gitterstäbe klirrten und schwangen auf. Die Pumps zögerten auf der Schwelle, kamen herein. Sobald sie in Bewegung waren, traten die Füße sicher und selbstbewusst auf. Zielstrebig.
Die Frau mit den Pumps setzte sich hin und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Tilly Fagan blickte auf sie herab. Sie hatte sich die Haare gefärbt, und der Lippenstift war von einem unglaubwürdigen Rot, das ihre Lippen voller erscheinen ließ, als sie tatsächlich waren.
»Claire, meine Liebe?« Leise und unbehaglich. »Ich bin’s.«
Die Anspannung kroch ihren Rücken herauf und erreichte die Wangen. Eine Anspannung und der Unmut über die Spannung. Tante Tilly hatte nicht das Recht, hier zu sein. Sie hätte nicht herkommen dürfen.
Tilly streckte eine Hand aus, beugte sich vor und streichelte ihren Kopf, wie sie es bei einer Katze getan hätte. Die erste menschliche Berührung, seit sie zu sich gekommen war. Die erste sanfte Berührung überhaupt, an die sie sich erinnern konnte. Leise, sanft und voller Bedauern sprach Tilly weiter.
»Man hat deinen Freund gefunden.«
Ich habe keine Freunde, dachte sie sofort. Dann rührte sich etwas tief unter ihrem Brustbein, und sie spürte ein tiefes Loch. Ren. Sie hatten Ren gefunden. Endlich zog sie die Arme unter dem Körper hervor und hielt sich einen Handrücken vor den Mund. Die Tränen waren warm, unwillkommen und so mächtig wie eine Flutwelle. Sie hatten Ren gefunden. Sie hatten ihre Werkzeugkiste geöffnet und seine Knochen gefunden, und jetzt würde Soledad alles erfahren. Genau wie Bob und Stanni. Das erste Schluchzen klang mehr wie ein Husten, und dann kam noch eines und noch eines, bis Tilly sie umarmte. Und, Gott helfe ihr, sie schrie und jammerte auf Tilly Fagans Schenkeln, während die Frau ihr über die Haare strich und beruhigende Laute von sich gab.
»Es tut mir leid«, kreischte sie. Die
Weitere Kostenlose Bücher