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Abaddons Tor: Roman (German Edition)

Abaddons Tor: Roman (German Edition)

Titel: Abaddons Tor: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James S. A. Corey
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Bezüge benutzt hatte, musste sich ihr Gehirn erst wieder an die durch Rotation erzeugte Schwerkraft gewöhnen, und jetzt hatte sie auch noch einen ungewöhnlichen optischen Eindruck vor Augen. Rational konnte sie sich alles erklären, doch der instinktgesteuerte Teil ihres Gehirns hatte seine liebe Not damit.
    Der Mann auf dem Bildschirm – er hatte seinen Namen genannt, doch sie erinnerte sich nicht mehr – presste die Lippen zusammen und hustete einmal. Es klang gurgelnd, als kämpfte er gegen eine Lungenentzündung an.
    »Anscheinend verstehen Sie nicht, in wie großen Schwierigkeiten Sie stecken«, fuhr er fort. »Sie werden beschuldigt, ein Militärschiff der Erde gesprengt zu haben, und die Beweise gegen Sie sind erdrückend. Glauben Sie mir, die UN verstehen in dieser Hinsicht keinen Spaß. Man wird Sie hinrichten. Begreifen Sie das? Man wird Sie vor ein Militärgericht stellen, fünfzehn oder zwanzig Minuten lang zwei Anwälte anhören und Ihnen dann das Gehirn zerlegen. Das kann ich Ihnen ersparen, aber Sie müssen mit mir reden. Übrigens glaube ich nicht, dass Sie eine professionelle Attentäterin sind. Ich halte Sie für eine Amateurin. Sie haben ein paar Anfängerfehler gemacht und die Kontrolle verloren. Sagen Sie mir, dass ich richtig liege, und dann gehen wir von da aus weiter. Aber Sie müssen mit dieser verdammten Katatonie-Vorstellung aufhören, denn sonst wird man Sie töten. Verstehen Sie, was ich sage?«
    Er hatte eine angenehme Stimme. Ihr Gesangslehrer hätte gesagt, dass er eine gute Modulation besaß. Sonor, aber mit hellen Obertönen. So eine Stimme besaß ein Mann, der sich in der Welt gehörig die Hörner abgestoßen hatte. Ihre eigene Singstimme hatte immer ein wenig nach einem Rohrblatt geklungen, so ähnlich wie bei ihrem Vater. Petyr, der arme Kerl, hatte nie den Ton halten können. Die anderen – Michael, Anthea, Julie und Mutter – hatten alle sehr klare Stimmen. Wie Flöten. Das Problem bei einer Flöte war, dass sie gar nicht anders als rein klingen konnte. Selbst der Kummer klang aufgesetzt und viel zu lieblich, wenn eine Flöte ihn ausdrückte. Rohrblätter summten tiefer und spröder, es klang ehrlicher. Sie und ihr Vater waren Rohrblätter.
    »Corin?«, sagte der Mann auf dem Bildschirm. »Versteht sie, was ich sage?«
    Die Frau mit der Waffe nahm das Handterminal, warf einen Blick zu Melba und antwortete dem Vorgesetzten.
    »Ich glaube nicht, Chief.«
    »Der Arzt sagt, sie hat keinen Gehirnschaden.«
    »Stimmt«, bestätigte die Frau. »Das heißt aber nicht, dass sie richtig im Kopf ist.«
    Das Seufzen klang sehr gedehnt.
    »Na gut«, fuhr der Mann fort. »Dann müssen wir es aus einer anderen Richtung angehen. Ich habe eine Idee, aber Sie sollten zuerst zurückkommen.«
    »Sa sa«, bestätigte die Frau und verließ die Zelle. Die Gitterstäbe schlossen sich wieder. Sie waren eng genug, dass ein Pferdehuf nicht hindurchpasste. Melba stellte sich vor, wie ein Pferd auskeilte, sich ein Bein einklemmte und in Panik geriet. Das wäre übel. Es war besser, das Problem von vornherein zu vermeiden. Klüger. Es war leichter, draußen zu bleiben, als sich hinterher zu befreien. Das hatte mal jemand zu ihr gesagt. Sie wusste nicht mehr, wer es gewesen war.
    »He, he«, sagte der andere Gefangene. Er rief nicht, sondern sprach nur gerade laut genug, damit sie ihn hörte. »Ist das wahr? Haben Sie Drüsenimplantate? Können Sie die Tür aufbrechen? Ich bin der Kapitän dieses Schiffs. Wenn Sie mich hier herausholen, kann ich Ihnen helfen.«
    Julie war die beste Sängerin gewesen, nur dass sie das Singen nicht gemocht hatte. Sie war nicht gern aufgetreten. Ihr Vater dagegen hatte sich im Rampenlicht gesonnt. Nur zu gerne hatte er die Führung übernommen, wenn sie Lieder singen wollten. Er hatte die Posen festgelegt, wenn Familienfotos aufgenommen wurden. Er war ein Mann, der wusste, was er wollte und wie er es bekommen konnte. Nur, dass er jetzt im Gefängnis saß. Er trug nicht einmal mehr seinen Namen, sondern war nur eine Nummer. Sie fragte sich, ob seine Zelle der ihren ähnlich war. Seine stand natürlich unter einem vollen G. Die Rotationsschwerkraft betrug nicht einmal ein halbes G. Vielleicht ein Drittel, womöglich sogar weniger. Wie auf Mars oder Ceres. Seltsam, dass die Erde unter allen Orten, wo Menschen lebten, derjenige mit der höchsten Schwerkraft war. Wenn man von zu Hause entkommen konnte, dann konnte man auch überall sonst fliehen.
    »Sind Sie da? Sind Sie wach?

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