Abaddons Tor: Roman (German Edition)
langer Zeit unter null G fast zwei Zentimeter gewachsen war, weil die Schwerkraft nicht mehr die Flüssigkeit zwischen den Bandscheiben herausgedrückt hatte. Abgesehen von den geschrumpften Muskeln war die Belastung durch das Gewicht – ob Drehung, Schub oder echte Schwerkraft – die häufigste Ursache von Verletzungen. Die Bandscheiben waren dazu da, Druck abzufangen, und die Flüssigkeit sollte sie ständig umspülen. Ohne die Schwerkraft verwandelten sie sich in wassergefüllte Ballons und platzten manchmal sogar.
Ihr Knie berührte den Boden, drückte schließlich sogar dagegen. Seit dem ersten Sirenenalarm war sicherlich eine Stunde oder sogar mehr verstrichen. Oben und unten existierten wieder, und sie ließ sich zu Boden ziehen, wo sie sich zusammenrollte. Sie war kraftlos wie nasses Papier. Im Boden befand sich ein Abfluss, die weißen Keramikfliesen waren noch nie vom Blut oder Urin eines Tiers verschmutzt worden. Über ihr flackerte das Licht und brannte dann wieder gleichmäßig. Der andere Gefangene schrie, weil er etwas brauchte. Essen vielleicht. Wasser. Einen Wächter, der ihn zum Lokus begleitete.
Es kam ihr ganz selbstverständlich vor, dieses Wort zu benutzen. Es war keine Toilette und kein Wasserklosett. Sie rief nicht um Hilfe, sondern spürte einfach nur, wie ihr Körper schwerer wurde und nach unten gezogen wurde. Da sie nach unten gezogen wurde, bewegte sie sich gleichzeitig nach außen. Es war keine echte Schwerkraft und daher kein echtes Gewicht. Es war nur ihre Masse, die in die Schwärze davonfliegen wollte und von den Wänden aufgehalten wurde. Jemand kam und sah nach dem anderen Gefangenen. Dicke Plastikstiefel durchquerten ihr Gesichtsfeld. Dann hörte sie Stimmen. Worte wie loyal und Meuterei . Wendungen wie: Wenn der richtige Augenblick gekommen ist und Die Ordnung wiederherstellen. Die Worte kamen und gingen. Der Kopf tat ihr weh, weil die Schläfe gegen den Boden drückte. Sie wollte schlafen, hatte aber Angst vor den Träumen.
Weitere Schritte ertönten, die Stiefel bewegten sich in die andere Richtung und kamen an ihr vorbei. Wieder Stimmen, die Stiefel kehrten zurück. Das dumpfe metallische Klirren der Ketten, die von der Tür der Box entfernt wurden. Ihr Körper rührte sich nicht, doch ihre Aufmerksamkeit war geweckt. Es war eine neue Wächterin. Sie hatte breite Schultern und eine Waffe in der Hand, betrachtete Melba, zuckte mit den Achseln und hob ein Handterminal.
Der Mann auf dem Bildschirm sah nicht wie ein Cop aus. Seine Haut war hellbraun wie Kuchenteig. Das Gesicht war eigenartig geformt – ein breites Kinn, dunkle Augen, Falten auf der Stirn und um die Mundwinkel –, was sie erst einordnen konnte, als er sich bewegte. Dann wurde klar, dass er lag und zur Kamera emporblickte.
»Ich heiße Carlos Baca«, sagte der liegende Mann. »Ich bin für die Sicherheit auf der Behemoth verantwortlich. Das Gefängnis, in dem Sie stecken, ist meins.«
Na gut, dachte Melba.
»Nun zu Ihnen. Ich glaube, Sie können mir eine interessante Geschichte erzählen. Die UN-Aufzeichnungen zu Ihrer DNA behaupten, Sie seien Melba Koh. Einige Leute, denen zu misstrauen ich keinen Grund habe, beharren darauf, Sie seien Clarissa Mao. Die XO der Rosinante berichtete mir, sie hätten versucht, sie zu töten, und die russische Priesterin bestätigt diese Darstellung. Dann ist da noch ein Toningenieur, der sagt, Sie hätten ihn angeheuert, um auf der Rosinante eine Wanze zu installieren.« Er schwieg einen Moment. »Sagt Ihnen das etwas?«
Der Rahmen des Handterminals bestand aus grüner Keramik, vielleicht auch aus lackiertem Metall. Plastik war es jedenfalls nicht. Ein kleiner Riss auf dem Bildschirm zeichnete eine Narbe über das Gesicht des Mannes, wie man es manchmal bei Piraten in Kinderbüchern sah.
»Also gut, wie wäre es damit?«, fuhr er fort. »Die Ärzte sagen, Sie haben veränderte Drüsen. So etwas benutzen Terroristen, wenn sie etwas Spektakuläres tun wollen, ohne entdeckt zu werden. Diesen Leuten ist es völlig egal, wenn sie binnen weniger Jahre ihr Nervensystem in Gemüsesuppe verwandeln. So etwas kann sich eine einfache Wartungstechnikerin jedenfalls nicht leisten. Mal abgesehen davon, dass sie auch keinen Grund dazu hätte.«
Es fühlte sich seltsam an, wie sie auf das Gesicht des Mannes hinabblickte, während ihr Kopf gegen den Boden drückte. Teilweise lag dies sicher daran, dass sie so lange in der Schwerelosigkeit gelebt hatte. Nachdem sie ausschließlich visuelle
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