Abaddons Tor: Roman (German Edition)
sah, hob die Hand zum Gruß und winkte ihr. Die Geste erinnerte sie an die letzten Tage ihres Großvaters. Der alte Mann hatte sich damals vorsichtig und etwas linkisch bewegt. Cortez schien in den letzten paar Tagen um ein Jahrzehnt gealtert zu sein. Dann wurde ihr bewusst, dass er vermutlich bei der Katastrophe Verletzungen davongetragen hatte.
»Anna«, sagte er. »Ich bin so froh, Sie zu sehen.«
Die mächtige Walze der Behemoth drehte sich jetzt und erzeugte eine Schwindel erregende falsche Schwerkraft. Annas Füße behaupteten, sie kippte zur Seite, und beharrten darauf, den Körper in die andere Richtung zu neigen. Die Störung war nicht stark genug, um unsicher auszuschreiten, aber es fühlte sich alles ein wenig surreal an. Die Tatsache, dass Hector Cortez, die Berühmtheit und der Priester der Mächtigen, sie auf die Wange küsste, hob das unwirkliche Gefühl nicht auf.
»Ich freue mich auch«, erwiderte sie. »Ich wusste gar nicht, dass Sie auf der Behemoth sind.«
»Wir sind alle herübergekommen«, erklärte er. »Auf der Thomas Prince ist nur eine kleine Crew zurückgeblieben, und wir anderen sind hier. Alle, die überlebt haben. Wir haben viele verloren. Gestern habe ich am Gottesdienst für die Gefallenen teilgenommen. Vater Michel, Rabbi Black, Paolo Sedon.«
Anna spürte einen Stich im Herzen.
»Alonzo Guzman?«
Cortez schüttelte den Kopf.
»Er ist weder tot noch lebendig. Sie haben ihn in ein künstliches Koma verletzt, rechnen aber nicht damit, dass er überlebt.«
Anna erinnerte sich an die flehenden Augen des Mannes. Wenn sie nur etwas früher Hilfe gefunden hätte …
»Es tut mir leid, dass ich die Andacht verpasst habe«, sagte sie.
»Ich weiß«, antwortete Cortez. »Deshalb wollte ich Sie selbst hier abholen. Darf ich Sie begleiten?«
»Natürlich«, willigte Anna ein. »Allerdings kenne ich mich hier nicht aus.«
»Dann gebe ich Ihnen ein paar Anhaltspunkte.« Der alte Mann drehte sich ein Stückchen und deutete auf die Shuttlehalle. »Kommen Sie mit, und ich demonstriere Ihnen die Pracht des Aufzugsystems.«
Anna kicherte und ließ sich von ihm führen. Er lief sehr vorsichtig. Zwar trippelte er nicht, er schritt allerdings auch nicht kräftig aus. Verglichen mit dem Mann, der drei Fraktionen der Menschheit zusammengeführt hatte, damit sie durch den Ring ins Unbekannte flogen, schien er ein ganz anderer zu sein. Es war mehr als nur die Körperhaltung.
»Ich hielt es für wichtig, dass bei der Andacht alle sprechen, die sich an der Petition beteiligt haben«, erklärte er. »Ich wollte unserem Bedauern eine Stimme geben.«
»Unserem Bedauern?«
Er nickte.
»Ihrem und meinem. Wir alle haben empfohlen, in diese Finsternis zu fliegen. Es war unser Hochmut, unter dem Unschuldige leiden mussten. Sie sind gestorben, weil sie auf unseren schlechten Rat gehört haben. Gott hat mich gedemütigt.«
Dank der langjährigen Übung klang seine Stimme immer noch voll, doch sie hatte einen neuen Unterton bekommen. Ein schrilles, kindliches Jammern untermalte nun die priesterliche Großartigkeit. Sie empfand Mitgefühl für seine Verzweiflung und zugleich eine nicht sonderlich barmherzige Gereiztheit.
»Ich weiß nicht, ob ich es so sehen kann«, wandte sie ein. »Wir sind nicht hergekommen, um unseren eigenen Ruhm zu mehren. Unsere Absicht war es, die Menschen vom Kämpfen abzuhalten. Wir wollten uns gegenseitig ermahnen, dass wir alle in demselben Boot sitzen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies unlautere Beweggründe sind. Außerdem betrachte ich das, was geschehen ist, nicht als Strafe. Zeit und Zufall …«
»… treffen jeden Menschen, ich weiß«, sagte Hector.
Hinter ihnen röhrte die Steuerdüse eines Shuttles kurz auf und verstummte wieder. Zwei Gürtler in grauen Overalls schlenderten mit Werkzeugkisten hinüber. Cortez machte eine finstere Miene.
»Nun ernten wir die Früchte unserer Taten. Glauben Sie wirklich, es sei keine Strafe? Und dass die Entscheidung nicht aus Überheblichkeit getroffen wurde?«
»Die Menschheitsgeschichte ist eine unendliche Reihe von Verschnaufpausen, in denen wir uns von der jeweils letzten Katastrophe erholt haben«, wandte Anna ein. »Was geschehen ist, war schrecklich. Es ist schrecklich. Aber ich kann es nach wie vor nicht als Strafe Gottes betrachten.«
»Ich schon«, beharrte Cortez. »Ich glaube, wir sind ins Reich des Bösen gestürzt. Nicht nur das, Dr. Volovodov, ich fürchte, wir wurden von ihm verdorben.«
»Ich wüsste
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