Abaddons Tor: Roman (German Edition)
Prince , Madam. Es ist der sicherste Ort im ganzen Sonnensystem.«
Ihr Quartier war drei Meter breit und vier Meter lang. Nach den Maßstäben der Raummarine war es luxuriös, für einen armen Bewohner Europas normal, für einen Erder so klein wie ein Sarg. Ihr wurde einen Moment schwindlig, als die beiden unterschiedlichen Annas, die sie einmal gewesen war, das Zimmer auf ganz unterschiedliche Weise wahrnahmen. Eine ähnliche Entrücktheit hatte sie empfunden, als sie an Bord der Prince gekommen war und bald danach den Zug der vollen Schwerkraft gespürt hatte. Die Erderin, die sie den größten Teil ihres Lebens gewesen war, reagierte euphorisch, weil sich ihr Körpergewicht zum ersten Mal seit vielen Jahren richtig anfühlte. Die Bewohnerin Europas war müde und erschöpft, weil die Knochen viel mehr Gewicht tragen mussten.
Sie fragte sich, wie lange Nono brauchen würde, um sich wieder normal auf der Erde bewegen zu können. Wie lange Nami brauchen würde, um dort zu laufen. Beide wurden auf dem gesamten Rückflug mit Mitteln vollgepumpt, die das Wachstum von Muskeln und Knochen anregten, aber die Drogen halfen natürlich nur bedingt. Auch so würden noch qualvolle Wochen und Monate folgen, während sich die Körper auf die veränderte Schwerkraft einstellten. Anna konnte beinahe die kleine Nami vor sich sehen, wie sie sich abrackerte, um sich auf Hände und Knie zu stützen, wie sie es auf Europa getan hatte. Beinahe hörte sie die frustrierten Schreie, während sie genug Kraft sammelte, um sich wieder selbstständig zu bewegen. Sie war so ein entschlossenes kleines Ding und reagierte sicher sehr wütend, wenn sie die während der letzten zwei Jahre mühsam erworbenen physischen Fähigkeiten wieder verlor.
Es tat Anna im Herzen weh, wenn sie daran dachte.
Sie tippte auf die glänzende schwarze Fläche der Konsole in ihrem Zimmer und aktivierte das Terminal. Dann brauchte sie eine Weile, um die Steuerung zu begreifen. Das Gerät war darauf beschränkt, die Schiffsbibliothek zu lesen und Textnachrichten oder Audio- und Videodateien zu empfangen und zu verschicken.
Sie tippte auf einen Knopf, um eine Botschaft aufzuzeichnen, und begann: »Hallo, Nono, hallo, Nami!« Sie winkte in die Kamera. »Ich bin auf dem Schiff, wir sind jetzt unterwegs. Ich …« Sie hielt inne und sah sich in dem Raum mit den sterilen grauen Wänden und dem spartanischen Bett um. Schließlich schnappte sie sich ein Kissen und drehte sich wieder zur Kamera um. »Ich vermisse euch zwei jetzt schon.« Sie presste sich das Kissen fest an die Brust. »Das seid ihr, das seid ihr beiden.«
Sie schaltete die Aufzeichnung ab, ehe ihr die Tränen kamen. Als sie sich das Gesicht abwusch, summte die Konsole, weil eine neue Nachricht eingegangen war. Obwohl Nono unmöglich die Botschaft erhalten und beantwortet haben konnte, setzte ihr Herz einen Moment aus. Sie stürmte hinüber und öffnete die Konsole. Es war eine einfache Textnachricht, die sie an den Empfang der VIPs um 1900 in der Offiziersmesse erinnerte. Der Uhr nach war es jetzt 1300.
Anna tippte auf den Knopf, um die Einladung zu bestätigen, kroch angezogen ins Bett und weinte sich in den Schlaf.
»Hochwürden Dr. Volovodov«, dröhnte eine Stimme, kaum dass sie die Offiziersmesse betreten hatte.
Der Raum war für eine Party hergerichtet, ringsherum an den Wänden standen mit Speisen beladene Tische, hundert oder mehr Gäste plauderten in lockeren Gruppen. In einer Ecke war eine improvisierte Bar eingerichtet, hinter der vier Barkeeper eifrig damit beschäftigt waren, die Wünsche der Gäste zu erfüllen. Ein großer dunkelhaariger Mann mit perfekt frisiertem weißem Haar und einem makellosen grauen Anzug löste sich aus der Menge wie eine Venus, die dem Bad entstieg. Anna fragte sich, wie er diesen Effekt inszeniert hatte. Er gab ihr die Hand. »Ich bin so froh, dass Sie bei uns sind. Ich habe schon so viel über die bedeutende Arbeit gehört, die Sie auf Europa geleistet haben. Die Methodistische Generalversammlung hätte gar keine bessere Vertreterin für diese Reise auswählen können.«
Anna schüttelte den Kopf und entzog ihm vorsichtig die Hand. Dr. Hector Cortez, in seinen Livestreams Vater Hank genannt, erreichte jede Woche mehr als einhundert Millionen Zuschauer und war ein enger persönlicher Freund und der religiöse Ratgeber des Generalsekretärs. Sie vermochte sich nicht vorzustellen, woher er sie kannte. Ihre winzige Gemeinde auf Europa hatte aus weniger als hundert
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