Abaddons Tor: Roman (German Edition)
entlarvte sie ihre Gereiztheit wegen einer solchen Nebensächlichkeit als Strategie, um den Schrecken, der sich vor ihren Augen abspielte, nicht wahrnehmen zu müssen. Diese Erkenntnis kam freilich auf eine distanzierte und verträumte Weise. Sie wollte Tilly auffordern, den Mund zu halten, doch in diesem Moment sprach die Sprinkleranlage an, und aus fünf verborgenen Düsen in den Wänden und der Decke schossen Schaumstrahlen hervor. Der brennende Mann verschwand hinter weißen Blasen und war binnen Sekunden gelöscht. Der Geruch von verbranntem Haar wetteiferte mit dem Alkoholdunst.
Ehe jemand anders reagieren konnte, eilten Angehörige der Raummarine herein. Junge Männer und Frauen mit strengen Gesichtern und Handfeuerwaffen in den Halftern forderten in ruhigem Ton alle Anwesenden auf, sich nicht zu rühren, während die Rettungsteams ihre Arbeit taten. Dann kamen die Sanitäter und kratzten den Schaum von dem verhinderten Selbstmörder, der eher überrascht als von Schmerzen gezeichnet zu sein schien. Sie legten ihm Handschellen an und luden ihn auf eine Trage. Nach weniger als einer Minute hatte er den Raum verlassen. Sobald er draußen war, entspannten sich die bewaffneten Wachleute ein wenig.
»Sie haben ihn schnell gelöscht«, sagte Anna zu der bewaffneten jungen Frau, die neben ihr stand. »Das ist gut.«
Die junge Frau, die kaum älter als ein Schulmädchen war, lachte. »Dies ist ein Kriegsschiff, Madam. Unser Brandschutz ist sehr zuverlässig.«
Cortez war schon durch den Raum geeilt und redete mit dröhnender Stimme auf den leitenden Marineoffizier ein. Er schien sehr aufgeregt zu sein. Vater Michel sprach anscheinend ein stummes Gebet. Anna hätte sich ihm am liebsten angeschlossen.
»Nun ja.« Tilly deutete mit dem leeren Champagnerglas auf den Raum. Abgesehen von zwei hellroten Flecken auf den Wangen war ihr Gesicht bleich. »Vielleicht wird diese Reise doch nicht ganz so langweilig.«
9 Bull
Es wäre schneller gegangen, wenn Bull mehr Hilfe angefordert hätte, doch solange er nicht genau wusste, wer was tat, wollte er nicht allzu vielen Leuten vertrauen. Am besten überhaupt keinem.
Da die Crew aus rund tausend Menschen bestand, wurde die Sache ein wenig komplizierter. Bei einer so großen Besatzung konnte der leitende Sicherheitsoffizier beispielsweise darauf achten, ob sich Mitarbeiter aus nicht verwandten Bereichen zu ungewöhnlichen Zeiten trafen – ob es also Abweichungen von den Abläufen gab, die auf allen Schiffen eingehalten wurden. Im Grunde herrschte allerdings noch ein großes Chaos, weil die Crew und das Schiff einander erst kennenlernten. Sie trafen Entscheidungen, entwickelten Gewohnheiten und Routinen und eine eigene Kultur. So etwas wie Normalität gab es noch nicht, und deshalb gab es auch nichts Eigenartiges.
Andererseits waren es nur tausend Menschen.
Auf jedem Schiff gab es einen Schwarzmarkt. Irgendjemand auf der Behemoth tauschte mit Sicherheit Sex gegen Vergünstigungen. Irgendjemand organisierte Kartenspiele, richtete einen Pachinko-Raum ein oder versuchte es mit Schutzgelderpressung. Leute wurden bestochen, etwas zu tun oder zu unterlassen. So etwas passierte eben, wenn man einen Haufen Menschen zusammenbrachte. Bulls Job bestand nicht darin, das alles auszumerzen. Er sollte es nur so weit eindämmen, dass das Schiff ruhig und sicher fliegen konnte. Er musste Grenzen setzen.
Alexi Myerson-Freud war Ernährungswissenschaftler. Auf Tycho hatte er einigermaßen verantwortungsvolle Aufgaben übernommen, sich um Hefebottiche gekümmert und die Biotechnologie abgestimmt, um die richtige Mischung von Chemikalien, Mineralien und Salzen zu produzieren, damit die Menschen überlebten. Er war zweimal verheiratet gewesen und der Vater eines Kindes, das er seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte, und beteiligte sich aktiv an einer Kriegsspielgruppe, die im Netzwerk alte Schlachten nachstellte und dabei gegen die großen Generäle der Menschheitsgeschichte antrat. Er war acht Jahre jünger als Bull, hatte schmutzigbraunes Haar, zeigte oft ein unsicheres Lächeln und verkaufte nebenberuflich eine Mischung aus Aufputsch- und Betäubungsmitteln, die bei den Gürtlern unter dem Namen »Feenstaub« bekannt war. Bull hatte Erkundigungen eingezogen, bis er seiner Sache sicher war.
Selbst als er es wusste, wartete er noch einige Tage. Nicht sehr lange. Gerade lange genug, um Alexi eine Weile im Überwachungssystem zu verfolgen. Er musste sicher sein, dass im Hintergrund
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