Abaddons Tor: Roman (German Edition)
sich die Gespräche in der Messe, im Fitnessstudio und auf den Shuttles, mit denen sie die wechselnden Einsatzorte besuchten, immer nur um den Ring. Die marsianischen Forschungsschiffe und ihre Eskorte waren bereits eingetroffen und spähten in die Leere. Bislang waren noch keine offiziellen Verlautbarungen herausgekommen, und daher breiteten sich die Gerüchte aus wie ein Lauffeuer. Jeder Lichtstrahl, der durch den Ring zielte und auf ein Objekt traf, wurde wie im normalen Raum reflektiert. Wenn man sich dem Ring näherte, kamen jedoch einige beunruhigende Beobachtungen hinzu. Die Hintergrundstrahlung im Mikrowellenbereich war innerhalb des Rings älter als der Urknall. Die Leute sagten, wenn man den statischen Geräuschen jenseits des Rings genau zuhörte, konnte man die Stimmen der Toten von Eros oder der Verdammten hören. Melba erkannte die Angst hinter den Worten, wenn die anderen Menschen so etwas sagten. Soledad bekreuzigte sich sogar, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, während Melba das bedrückende Gewicht des Objekts zu spüren glaubte. Sie verstand die wachsende Angst der Menschen – aber nicht, weil sie selbst etwas Ähnliches empfand, sondern weil sie sich dem Höhepunkt ihrer eigenen privaten Krise näherte.
Das riesige Schlachtschiff der AAP war auf Kurs und würde bald, fast gleichzeitig mit der Flottille der Erde, am Ziel eintreffen. Noch war es keine Frage weniger Tage, aber bald würde es so weit sein. Die Rosinante hatte die langsamere Behemoth bereits überholt. Sie und Holden verließen den Einflussbereich der Sonne, und bald würden ihre Flugbahnen in einem Punkt zusammenlaufen. Dann würde der Angriff beginnen, und die öffentliche Demütigung und der Tod des James Holden wären die Folge. Danach …
Es war seltsam, an ein Danach zu denken. Je öfter sie es sich vorstellte, desto eher sah sie sich, wie sie sich in Melbas Leben dauerhaft einrichtete. Es gab keinen Grund, dies nicht zu tun. Clarissa Mao hatte nichts, besaß nichts, war nichts. Melba Koh hatte wenigstens eine Arbeit. Eine Geschichte. Es war ein hübsches Gedankenspiel, das noch hübscher wurde, weil es unmöglich war. Sie würde nach Hause fahren, sich wieder in Clarissa verwandeln und tun, was nötig war, um den Namen ihrer Familie reinzuwaschen. Ein Gebot der Ehre. Wenn sie blieb, würde sie sich in etwas wie Julie verwandeln.
In ihrer Jugend hatte Clarissa die ältere Schwester bewundert und zugleich gehasst. Julie war die Hübschere gewesen, die Klügere. Die Siegerin bei Jachtrennen. Julie konnte Vater zum Lachen bringen. Julie machte nie etwas verkehrt. Petyr war jünger als Clarissa und stand damit automatisch unter ihr. Die Zwillinge Michael und Anthea lebten schon immer in einer eigenen Welt voller Scherze und Bemerkungen, die nur sie verstanden. Manchmal wirkten sie eher wie Dauergäste in der Familie und nicht wie nahe Verwandte. Julie war die Älteste und diejenige, mit der Clarissa gern getauscht hätte. Diejenige, die es zu besiegen galt. Clarissa war nicht die Einzige gewesen, die Julie so betrachtet hatte. Auch ihre Mutter hatte so empfunden. Das war eine Gemeinsamkeit zwischen Clarissa und ihrer Mutter.
Dann war etwas geschehen. Julie hatte sich von ihnen allen zurückgezogen, sich die Haare geschnitten, die Schule abgebrochen und war in der Dunkelheit verschwunden. Clarissa erinnerte sich, wie ihr Vater die Neuigkeit beim Abendessen zur Kenntnis genommen hatte. Sie hatten in dem zwanglosen Esszimmer, das den Park überblickte, Kaju Murgh Kari gegessen. Sie war gerade, noch etwas nach Pferd riechend, von der Reitstunde zurückgekommen, Petyr hatte wieder über Mathematik geredet und alle gelangweilt. Auf einmal hatte ihre Mutter lächelnd vom Teller aufgeblickt und verkündet, dass Julie einen Brief geschrieben und erklärt hatte, sie wolle den Kontakt zur Familie abbrechen. Clarissa hatte den Mund weit aufgerissen. Es war, als hätte jemand gesagt, die Sonne wolle Politikerin werden, oder die Vier hätte entschieden, die Acht zu sein. Es war nicht völlig unbegreiflich, aber doch kurz davor.
Ihr Vater hatte gelacht. Er hatte behauptet, dies sei nur eine Phase, Julie wolle eine Weile wie die einfachen Leute leben und sich ein bisschen austoben. Sie werde nach Hause zurückkehren, sobald sie genug davon hätte. In seinen Augen hatte Clarissa allerdings gesehen, dass er selbst nicht daran glaubte. Sein perfektes Mädchen war weg. Sie hatte nicht nur ihn, sondern die ganze Familie gedemütigt. Ihren Namen.
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