Abaton
Tanzfläche unter sich.
Schritte näherten sich. Unsichere Schritte. Die Schritte eines alten Menschen. Nein, eines Menschen mit einer Gehbehinderung.
„Ich kenne die“, sagte Linus verblüfft.
Die Frau war aus dem Dunkel, aus dem sie gekommen war, in das Licht eines der Scheinwerfer getreten. Es war die geheimnisvolle alte Frau, der er beim Wintergarten begegnet war. Auch Simon erkannte sie wieder. Dieser Frau hatte er den Koffer die Treppe heraufgewuchtet. In der Nacht, als er mit Bobo in Berlin ankam.
„Bravo, Kinder!“, rief sie mit fester Stimme zu ihnen hinauf. „Ihr habt die kühnsten Erwartungen übertroffen. Bravo!“ Sie lächelte freundlich und offen, ihre Augen blitzten und wieder applaudierte sie.
Die drei verstanden gar nichts mehr. Alles hatten sie erwartet. Nur keinen Applaus.
„Ich hab jemanden mitgebracht“, sagte die Frau. Sie wies hinter sich und langsam lösten sich aus dem Dunkel zwei weitere Menschen. Ein Mann und eine Frau.
„Nein ...“, flüsterte Linus. „Nein!“, schrie er auf. Dann rannte er los und stürmte die Leiter hinunter, flog auf seine Eltern zu.
Er lag in ihren Armen und heulte Rotz und Wasser. „Ich hab es gewusst. Ich hab es immer gewusst ...“
Die Augen geschlossen hielt Linus seine Eltern umschlungen und für einen Augenblick hörte er auf zu denken und wollte nur noch Kind sein. Einen Augenblick lang. Dann spürte er dem Gefühl nach, das ihn erfüllte. War es Liebe? Glück? Sein Kopf sagte ihm, dass es so sein müsste. Aber sein Herz, seine Seele blieben kalt. War das wieder einer der Momente, von denen er erst im Rückblick sagen würde, dass es ein Glücksmoment war? Warum konnte er es nicht jetzt so empfinden? Er ließ seine Eltern nicht los. Das Gefühl des Glücks, das Gefühl, zu diesen Eltern zu gehören, mit ihnen eine Familie zu sein ... es würde sich sicher gleich einstellen. Ganz sicher! Das gesamte letzte Jahr hatte er nur für diesen Moment gelebt. Er wünschte sich so sehr, endlich angekommen zu sein ...
„Simon!“, rief die ältere Frau mit der Gehhilfe. „Komm herunter. Schau, wer da ist.“
Unsicher blickte Simon zu Edda. Die hob nur ratlos die Schultern. Also stieg Simon hinab. Und da trat aus dem Dunkel eine weitere Gestalt ins Schweinwerferlicht: seine Mutter. Mumbala im Schlepptau. Simon hatte einen Schritt auf die Mutter zumachen wollen, doch als er Mumbala sah, blieb er stehen. Das Ganze war ihm nicht geheuer. Und Edda auch nicht.
„Was soll das Theater?“, rief sie von der Empore herab. „Fehlt nur noch RTL. Und Marie!“
„Edda“, sagte die ältere Frau, „komm doch bitte auch zu uns.“
Edda blieb nichts anderes übrig, als ihren beiden Freunden zu folgen.
„Kriegen wir jetzt ein Foto und sind in der nächsten Runde, oder was?“ Edda wollte provozieren. Sie wollte das alles verstehen. „Ist das alles nur ein blödes Spiel? Das Camp? Und was danach passiert ist?“ Edda fixierte die Frau.
Erst jetzt kam Linus wieder ein wenig zur Besinnung. Er löste sich von seinen Eltern. Er begriff, warum sich für ihn kein Glücksgefühl einstellen wollte.
„Sie hat recht“, sagte er und sah seine Mutter und seinen Vater an wie Fremde. „Was ist das für ein Scheißspiel?“
„Ach, Linus …“ Seine Mutter lächelte sanft.
„Nein!“, ging Linus dazwischen. „Über ein Jahr habt ihr mich im Glauben gelassen, ihr seid tot. Nicht ein Wort. Kein Anruf. Kein Brief. Und jetzt taucht ihr hier auf, als wäre alles nur Spaß gewesen!“ Linus war laut geworden und vor seinen Eltern zurückgewichen. Die wollten ihn beschwichtigen, wollten, dass Linus der älteren Frau zuhörte. Doch sie kam nicht zu Wort, denn jetzt wurde auch Simon laut.
„Du hast das gewusst? Die ganze Zeit?“ Fassungslos starrte er seine Mutter an. Mumbala würdigte er keines Blickes. Tränen der Wut stiegen in ihm auf.
Seine Mutter deutete auf die ältere Frau. „Simon. Sie wird alles erklären. Es ist alles gut!“
„Ihr seid ja wahnsinnig ... Ist das ’ne Sekte, oder was?“
„Simon!“, sagte Mumbala plötzlich scharf. „Höre ihr zu!“
„Du hast mir gar nichts zu sagen!“, gab Simon zurück. „Wir haben Scheißangst gehabt, ist euch das klar? Dieser Söldner wollte uns umbringen!“
„Nein!“ Seine Mutter schüttelte den Kopf. Aber Simon glaubte ihr nicht.
„Was, wenn es ihm gelungen wär?“ Er starrte seine Mutter an. Wartete, dass sie ihm eine Erklärung lieferte. Aber da war nur Schweigen.
„Gebt uns einfach eine
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