Abaton
horchte nur. Die Schritte verstummten. Der heimliche Schleicher war stehen geblieben. Und da sich Linus’ Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahm er den Hauch eines Schattens wahr, der sich auf der Zeltwand abzeichnete wie ein riesiger Fleck. In Menschenform allerdings.
Die Campleiterin sah, dass das Zelt von Edda offenstand. Sie schaute hinein. Da war niemand. Dann blickte sie zum Zelt von Linus und Simon. Sie nahm die Wärmekamera aus der Tasche und richtete sie auf das Zelt.
Linus zuckte automatisch zurück, als der Schatten etwas auf das Zelt richtete, das aussah wie eine Waffe. Er wartete. Nichts geschah ...
Wabernde Konturen zeichneten sich auf dem Display der Wärmekamera ab. Die Campleiterin konnte drei Körper erkennen. Edda war wohl bei den Jungs untergeschlüpft. War sie der Grund für die so unglaublich hohe Anzeige für die Kritische Masse? Unmöglich, dachte sie. Das Mädchen ist aus Versehen hier im Lager. Sie kann gar nicht Bestandteil einer Kritischen Masse sein.
Nachdenklich begab sich die Campleiterin zurück zu ihrem Wohnwagen.
Im Zelt richtete sich Linus auf und atmete durch. Er hörte, wie sich die Schritte entfernten. Leise öffnete er das Zelt und sah, wie die Campleiterin durch die Reihen von Zelten davonging. Sie? Was hatte sie hier gewollt? Ein Routinekontrollgang?
Auch wenn er sich noch keinen Reim darauf machen konnte, Linus wollte Gewissheit. War es möglich, dass die merkwürdigen Vorfälle mit seinen Plänen zu tun hatten? War es möglich, dass man ihm auf die Spur gekommen war? Was wussten sie über ihn? Er musste es unbedingt herausbekommen, bevor er seine Mission startete. Er konnte kein Risiko eingehen. Nicht nach all den Vorbereitungen, die er getroffen hatte.
Leise und ohne die beiden anderen zu wecken, zog er seine Jacke über, nahm die Taschenlampe, sein Messer, sein Handy und ging in die Nacht hinaus.
[ 1143 ]
Licht.
Edda öffnete die Augen. Tropfen fielen auf sie nieder. Und dennoch lachte sie. Sie hatten den endlos schwarzen Tunnel endlich verlassen. Edda schaute in den Himmel von Berlin, an dem langsam der Morgen heraufdämmerte. Sie wandte ihren Blick zu Linus und Simon. Die hatten ihre Gesichter vom Fahrtwind abgewandt und die Augen geschlossen. Sie konzentrierten sich ganz auf ihre Hände. Um den Halt, um Edda nicht zu verlieren. Ihre Finger umklammerten die metallenen Rippen der Lüftungsschlitze des Waggons. Die Knöchel ihrer Finger waren weiß. Längst hatten sie kein Gefühl mehr in den Händen. Und dennoch ließen sie nicht los. Edda sah auf die Finger, dann in ihre Gesichter. Freunde, dachte sie unwillkürlich. Und sie fühlte sich wunderbar sicher.
Langsam drosselte die Bahn schließlich das Tempo. „Yorckstraße“, klang es aus einem Lautsprecher, als die S-Bahn anhielt.
[ 1144 ]
„Yorckstraße!“, sagte die Frau vor dem gläsernen Display in ihr Handy. Sie dirigierte Clint und seine Männer zu der Haltestelle der S1. Das Signal, auf das sie seit den letzten zwölf Minuten ununterbrochen gestarrt hatte und das den Fluchtweg der Jugendlichen anzeigte, verharrte jetzt an diesem Platz. Die drei waren offensichtlich von dem S-Bahn-Waggon heruntergeklettert.
„Alles klar.“ Clint hatte wieder zu seiner Ruhe gefunden.
Er gab das neue Ziel an seinen Fahrer weiter und der silberne Van passierte das Technikmuseum, bog rechts in die Möckernstraße in Richtung Süden ab. Drei Minuten noch bis zum S-Bahnhof Yorckstraße, höchstens vier.
Clint schloss die Augen. Der Fahrer bremste. Rot.
Rechts ging es in die Yorckstraße, zum S-Bahnhof. Clint holte sich die aktuelle Information aus der Zentrale. „Positiv.“
Die Jugendlichen waren noch immer am Bahnhof ...
[ 1145 ]
„Scheiße! Du hättest uns sagen müssen, wie gefährlich das ist.“ Simon lief auf dem Bahnsteig auf und ab. Die Verfolgung, die Flucht ... all das Adrenalin der letzten Stunden wich nun seiner Wut. In was hatte Linus ihn und Edda da reingezogen? Linus starrte nur auf seine Hände. Er versuchte, die Finger wieder gerade zu bekommen und zu bewegen.
„Was sind das für Leute? Warum sind die hinter uns her? Wollen die uns umbringen oder was?“ Simon war vor Linus stehen geblieben. Mit unterdrückter Stimme hatte er auf ihn eingeredet. Nach und nach kamen immer mehr Menschen auf den Bahnsteig. Die ersten Reisenden des Tages.
Linus schaute hoch, bewegte dabei die Finger, als würde er ein schnelles Tremolo auf dem Klavier spielen. Das Blut floss wieder. Gut so. Eins nach
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