Abaton
haben, auf welchen Bahnsteig sie mussten. Sie wussten genau, wohin sie wollten. Und noch immer war keine rettende S-Bahn in Sicht.
„Zum anderen Bahnsteig!“, rief Edda. Sie hatte die Unterführung entdeckt, durch die man zu dem Bahnsteig gelangte, an dem die Züge zurück in die Stadt hielten. Eilig, aber ohne zu rennen, bewegten sie sich zu der Unterführung. Sie huschten die Stufen hinunter und auf der anderen Seite vorsichtig wieder hinauf. Noch ehe sie die obersten Stufen erreicht hatten, lugten Linus und Simon durch das Geländergitter zu den Verfolgern hinüber. Sie konnten erkennen, wie der Anführer stehen blieb. Er hielt sein Handy ans Ohr. Nickte. Und änderte seine Laufrichtung. Sprintete in Richtung Unterführung ...
Verzweifelt sahen sich die beiden Jungen an. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Ihre Handys waren es also nicht! Wer hatte sie im Blick? Wie erfuhren ihre Verfolger, wo sie sich gerade aufhielten? Linus spürte, was er in den letzten Monaten so erfolgreich bekämpft hatte. Angst. Es begann immer unter den Haarwurzeln. Dieses Kribbeln, das sich anfühlte, als würden sich alle Haare auf einmal aufstellen. Nicht jetzt! Keine Angst. Bitte! Er musste klar denken. Verdammt. Da waren plötzlich diese Insekten in seinem Kopf, die Finger, die nach ihm griffen. Jetzt war wirklich der schlechteste Zeitpunkt, dass seine Ängste zurückkamen. Er konnte nichts dagegen tun.
„Bleib ruhig. Dir fällt etwas ein ...“
„Was?“, fragte Linus und wandte sich um. Nein, er hatte das nicht gesagt. Es war Eddas Stimme, die er gehört hatte. Doch die war weiter unten an der Treppe. Sie schaute ihn nur an.
„Dir fällt etwas ein. Ich bin sicher.“ Linus starrte sie an. Er sah ihre Angst. Doch sie bewegte gar nicht die Lippen. Aber wie konnte er ihre Stimme hören?
„Was ist?“ Simon packte ihn. „Hast du ’ne Idee?“ Linus war noch immer völlig neben sich. Aber die Bilder der Angst waren plötzlich verschwunden. Die Freunde vertrauten darauf, dass ihm etwas einfiel. Da kam ihm eine Idee.
„Die Namensschilder!“, sagte er. Vielleicht sind es die Namensschilder. „Her damit!“ Simon verstand nicht, aber Linus hatte jetzt keine Zeit für lange Erklärungen. Er griff nach Simons Jacke, riss sie auf und zupfte das Namensschild von seinem Sweatshirt. Edda hatte sofort begriffen. Sie kam die Stufen herauf und gab Linus ihr Namensschild. Der hatte seines schon abgenommen. Er überlegte nicht lang, schaute sich nur kurz um, huschte hinter einer alten Frau mit Dackel her und ließ die Namensschilder unbemerkt in die große Tasche gleiten, die die Frau mit sich trug.
„Los, zurück!“ Die anderen beiden im Schlepptau, lief er wieder die Treppe hinunter und durch die Unterführung hinauf zu dem Bahnsteig, der stadtauswärts führte. Er blickte in den Mülleimer und wollte sein Handy wieder herausholen. Es war weg. Seine Augen spiegelten Panik. Er wühlte. Nichts! Er schaute sich um. Eine fette Frau mit langen, öligen Haaren rollte ein Wägelchen den Bahnsteig entlang. Sie sammelte Flaschen aus dem Müll. Während sich Simon und Edda vor den Verfolgern versteckt hielten, lief Linus hinter der Fetten her. Die telefonierte fröhlich und zwar mit seinem Handy.
„Entschuldigung ...“, sagte Linus und zupfte die Frau am Ärmel. „Das ist mein Handy.“
Die Frau blieb stehen und schaute ihn an.
„Looogisch“, sagte sie lachend und wankte weiter. Linus hielt sie wieder auf.
„Sie haben es in dem Mülleimer da gefunden. Ich hatte es ...“
„Wegjeschmiss’n, wa! Und det heesst für unsaeenen ... na, wat heest itt? Rischtisch! Det heest det is unsaeins, det Äppel. Also vazieh dir, Männeken!“
Linus überlegte. Die nächste S-Bahn wurde angekündigt. Er brauchte sein Handy. Alles, was er recherchiert hatte, was er über das Verschwinden der Eltern gesammelt hatte, konnte er unterwegs mit diesem Handy abrufen. Nicht zu vergessen die Bilder, die er im Untergrund fotografiert hatte. Er eilte zurück zu den beiden Freunden.
Die hielten sich noch immer zwischen den wartenden Fahrgästen versteckt und beobachteten, was sich auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig abspielte.
Die Verfolger hatten sich geschickt verteilt, jeder mit einem Handy am Ohr. Einem unwissenden Beobachter wären sie nicht weiter aufgefallen. Offenbar hatten sie die Spur verloren. Sie wirkten unruhig. Zur selben Zeit näherten sich zwei S-Bahnen, die eine stadtein-, die andere stadtauswärts.
Linus borgte sich eilig
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