Abaton
die Stelle seiner Wut trat sein Jagdinstinkt. Diese anfangs so einfach, so läppisch scheinende Aufgabe wandelte sich langsam in einen Auftrag ganz nach seinem Geschmack. Mochten es auch nur drei pubertierende Kinder sein – sie hatten was drauf. Nicht, dass er sie dafür mochte. Aber ein ebenbürtiger Gegner erlaubte mehr Finten. Erhöhte das Jagdvergnügen. Sie hatten ihn nun endgültig herausgefordert.
„Raus hier!“, befahl er seinen Leuten. Und sie eilten mit ihren Waffen durch das Dunkel davon.
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Das helle Augenpaar, das die Szene aufmerksam beobachtete, bemerkten sie nicht. Der Mund in diesem hageren Gesicht lächelte zufrieden. Die Gestalt nahm ihren weiten Mantel wieder auf, hüllte sich ein und ging in den toten Tunnel hinein. In den Tunnel, in dem Linus die unzähligen Gemälde entdeckt hatte, die sich glichen wie ein Ei dem anderen.
Vor dem letzten der Inselgemälde mit den verschränkten Hakenkreuzen blieb die Gestalt stehen und schloss die Augen. Sie schien Kontakt mit dem Bild aufzunehmen. Dann, ohne zu zögern, trat die hagere Gestalt auf das Gemälde zu und verschwand darin; auf die Insel ...
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Mit den Fingern klammerte sie sich fest.
Simon und Linus hatten Edda auf dem Dach der S1 in ihre Mitte genommen. Dann hatten sie sich mit den Fingern an den Ritzen des Lüftungsschachts auf dem Waggondach eingekrallt, und zwar so, dass Edda von ihren Armen umschlossen wurde. Die Signallichter huschten vorüber. Kabel und Leitungen flossen über sie hinweg, sammelten, teilten sich. Führten weiter in andere, noch schwärzere Tunnel. Edda hatte die Augen geschlossen. Der Fahrtwind jagte über sie hinweg. Und obwohl sie so schnell fuhren, hatte Edda nicht den Eindruck, dass sie je wieder dem Dunkel entkommen würde ...
Wann war der Moment gewesen, als sich ihr Weg direkt in dieses Verderben gewendet hatte? War es die Sehnsucht nach Marco gewesen, weshalb sie ja überhaupt an dem Wettbewerb teilgenommen hatte? Hätte sie sich ihr eigenes Zelt aussuchen sollen? Nicht das neben Linus und Simon ... Hätte sie in ihrem Zelt bleiben sollen? Augen zu. Schlafsack bis oben zuziehen ...
Ja. Sie hätte einfach nur in ihrem Zelt bleiben müssen ...
[ 1134 ]
Nach dem gemeinsamen Essen am Lagerfeuer waren die Jugendlichen müde. Alle kehrten zu ihren Zelten zurück und machten sich für die erste Nacht im Camp fertig. Edda legte sich angezogen aufs Feldbett. Draußen zirpten die Grillen und erinnerten sie an Indien. Wie es ihrer Mutter jetzt wohl ging?
Eddas Glücksgefühl vom Nachmittag war fast völlig verflogen. Sie konnte sich gar nicht mehr erinnern, wie es war, glücklich zu sein. Plötzlich hielt sie es in diesem Zelt nicht mehr aus. Vielleicht sollte sie zur Campleiterin gehen und fragen, ob sie woanders schlafen konnte?
Edda stand auf und zog den Reißverschluss ihres Zeltes herunter. Dann krabbelte sie hinaus. Die Sterne leuchteten. In den anderen Zelten ringsherum schienen alle zu schlafen. Nur aus dem Zelt nebenan drangen leise Stimmen und sie trat näher. Simon und Linus waren noch wach. Ihr Gemurmel beruhigte sie.
„Er ist unschuldig.“
Edda hörte Simons Stimme. Sie mochte sie. Sie war tief und schon männlich. Strahlte Geborgenheit aus.
„Sie haben ihn wegen seiner Forschungen zu freier Energie verurteilt und ins Gefängnis gesteckt. Die Richter, die Polizei und die Leute, für die er gearbeitet hat, stecken alle unter einer Decke.“
„Freie Energie – hab ich schon mal gehört“, antwortete Linus nachdenklich. „Komisch, dass wir alle ohne Eltern sind, irgendwie.“
„Wer denn noch?“, fragte Simon.
„Edda doch auch.“
Sie schwiegen. Edda hätte zu gern gewusst, was die beiden Jungs dachten.
„Komische Braut. Ich weiß gar nicht, was die hier will.“
„Ich find sie irgendwie cool.“
Das war Linus.
Edda merkte, dass sie ein bisschen enttäuscht war. Seltsam. Sie wunderte sich über sich selbst.
Linus war doch der viel hübschere der beiden. Sie trat näher an das Zelt. Linus bemerkte den Schatten, der sich über das Zelt beugte, und gab Simon ein Zeichen. Fast geräuschlos stand er auf und schlich zum Eingang. Mit einem Ruck riss er die Eingangsplane auf. Edda erschrak.
„Scheiße!“
„Du? Was schleichst du ums Zelt herum?“
„Ich kann nicht schlafen!“
Linus bemerkte, dass Edda Angst hatte.
„Warum schläfst du nicht einfach bei uns in unserem Zelt?“, fragte er.
„Ist dir vielleicht aufgefallen, dass Edda ein Mädchen ist?“, fragte
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