Abaton
Simon.
„Mädchen sind auch nur Menschen“, antwortete Linus und lachte. Und Edda lachte mit. Simon verzog den Mund.
„Klingst wie meine Mutter“, sagte er.
Edda war da bereits zurück in ihr Zelt gehuscht. Kurz darauf kam sie mit ihrem Schlafsack und ihrer Handtasche zurück und packte alles auf das freie Feldbett. Dann kuschelte sie sich in ihren Schlafsack. Es war besser, unter Menschen zu sein. Sie liebte Menschen. Na ja, manchmal jedenfalls.
„Und die Moskitos?“, fragte Linus.
„Och, kein Problem“, sagte Edda. „Die gehen immer zu dem, der am meisten stinkt.“ Sie lachte. Und die beiden Jungs mussten mitlachen.
„Werden wir ja morgen früh sehen, wer das ist.“ Das war das letzte Wort. Dann musste nur noch jeder seine richtige Einschlafposition finden und es wurde still.
[ 1135 ]
Die Campleiterin schaute zu den Zelten.
Nur vereinzelt noch wurde getuschelt. Sie ging zurück in ihren Wohnwagen, klappte den Laptop auf und rief die stumme Audiodatei auf. Sie kontrollierte die Verbindung ihres Computers mit den Lautsprechern im Camp. Es war alles bereit. Dann setzte sie sich einen professionellen Hörschutz auf die Ohren und klickte auf das kleine Dreieck: den Befehl, die Datei abzuspielen. Nichts. Kein Ton war zu hören. Nicht in dem Wohnwagen, nicht aus den Lautsprechern. Stille lag über dem Camp. Und überraschend schnell verstummten die letzten Stimmen.
[ 1136 ]
„Ich weiß, wie wir von hier in die Stadt kommen“, sagte Edda ein paar Minuten später im Flüsterton. „Meine Oma hat mir auf dem Hinweg erklärt, dass es hier eine alte Bahnstrecke gibt, die direkt nach Berlin führt. Sie ist nach dem Krieg stillgelegt worden.“
„Also ich bleib heute Nacht ganz sicher hier“, sagte Linus und streckte sich.
„Meine ja nur“, sagte Edda und während sie das sagte, fielen ihr die Augen zu. „Ihr seht nämlich auch nicht gerade aus, als wolltet ihr unbedingt die ganze Zeit in diesem öden Zeltlager sein.“
„Gute Idee“, grummelte Simon, doch auch er wurde plötzlich müde. Sterbensmüde.
Nur Linus kämpfte als Einziger noch gegen den Schlaf an. Er hatte sich vorgenommen, jedes Mal vor dem Einschlafen seine Eltern vor sein geistiges Auge zu holen. Er wollte kein Foto als Hilfestellung benutzen. Er wollte sich erinnern. Es war für ihn wie ein Test ihrer Verbundenheit. Und es machte ihm zu schaffen, dass es Tage gab, an denen er sich plötzlich nicht mehr das Gesicht seiner Mutter vorstellen konnte. Alles, was er zuwege brachte, waren allenfalls Annäherungen. Doch in letzter Zeit blieb sie ihm oft seltsam fremd. Was ihn zu den blödesten Schlussfolgerungen verleitete. Dass er adoptiert worden sei, dass seine Mutter ihn gar nicht liebte.
An diesem ersten Abend im Camp fiel es ihm besonders schwer, nicht einzuschlafen, ehe er seine Eltern „gesehen“ hatte. Seltsam, diese bleierne Schwere auf einmal, dachte er. Er versuchte es mit einem alten Trick, der bisher immer funktioniert hatte. Indem er sich den Ablauf von Dingen vorstellte, die nicht unterbrochen werden konnten. Der Dominoeffekt oder Kettenreaktionen. Als er trotzdem fast einschlief, dachte er an sein Lieblingsbuch »Der Graf von Monte Christo« und stellte sich vor, wie er aus dem Chateau d’If floh, sich in einen Leinensack nähen ließ, ins kalte Wasser stürzte und sich befreite. Nichts davon half.
Linus versank im Schlaf, ohne seine Eltern gesehen zu haben ...
[ 1137 ]
Wer in dieser Nacht genau hätte hinsehen können, hätte entdeckt, dass die Membranen der Lautsprecher heftig vibrierten. Ohne den leisesten Ton hervorzubringen, sandten sie eine extrem niedrige Frequenz aus. Von dem Metallchip in den Namensschildern verstärkt, erzeugten sie bei den Zeltbewohnern Müdigkeit und garantierten gleichmäßigen Schlaf.
[ 1138 ]
Zur gleichen Zeit bog der silberne Van von der Avus in westlicher Richtung ab. Clint saß stumm auf dem Beifahrersitz. Seine Männer alberten auf dem Rücksitz. Er konnte es ihnen nicht verdenken. Es war eine simple Routinesache, die sie vor sich hatten. Jeder kannte jeden Handgriff, den er zu tun hatte. Oft genug schon hatten sie diese Arbeit erledigt.
Nach gut 2 Kilometern setzte der Fahrer den Blinker nach rechts und folgte dem Teltower Weg. Schnurgerade durchschnitt die Straße den Wald. Schließlich hielt der Van an einer kleinen Lichtung. Im fahlen Licht des abnehmenden Mondes glänzte der See. Am anderen Ufer konnten die Männer die Zeltstadt erkennen. Sie hatten ihr Ziel
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