Abaton
Hagere ließ die Zeitung sinken.
[ 1155 ]
Die Verfolger hatten auf ein kaum merkliches Zeichen von Clint innegehalten. Er hatte sie entdeckt. Die Kritische Masse. Kaum 5 Meter entfernt standen das Mädchen und die zwei Jungen. Er hatte recht gehabt. Sein Instinkt hatte ihn nicht getäuscht.
Eben hatten sich die Kollegen aus der S1, die stadteinwärts fuhr, gemeldet. Die vermeintlich Kritische Masse in diesem Waggon war eine alte Frau mit Dackel gewesen. Die Kinder hatten offenbar ihre Detektoren entdeckt und der Frau in die Tasche geschmuggelt.
Jetzt hatte Clint seine Beute vor sich. Und er genoss das Gefühl. So wie im philippinischen Dschungel. Dieses Hochgefühl, wenn man weiß, dass man gewonnen hat. Kein Grund zur Eile. Er wollte dieses so lange vermisste Gefühl noch ein wenig auskosten. Auch aus Respekt vor diesen Kindern. Sie hatten sich wacker geschlagen.
[ 1156 ]
„Scheiß Abzock-System!“, schleuderte Simon den verdutzten Kontrolleuren entgegen. „Ich fahre schwarz!“ Edda und Linus begriffen sofort.
„Ich auch!“
„Keine Macht der BVG!“
Da waren sie bei den Kontrolleuren gerade an die Richtigen geraten.
„So? Ist das so? Dann steigt mal brav mit aus!“ Die Kontrolleure nahmen die drei in ihre Mitte, um die S-Bahn mit ihnen am nächsten Bahnhof zu verlassen. Aber Edda randalierte. Zeterte herum. Schimpfte, was das Zeug hielt. Die Jungs machten mit. Plötzlich stimmten sogar ein paar andere Jugendliche mit in die Suada gegen die Berliner Verkehrsbetriebe ein. Damit hatten die Kontrolleure nicht gerechnet.
„Ruft doch die Bullen! Feiglinge!“, sagte Linus provozierend und brachte die Kontrolleure damit auf eine Idee. Die richtige Idee. Über Funk beorderten die Männer eine Streife zum nächsten Bahnhof.
„Jetzt werdet ihr schon sehen, was ihr davon habt!“, triumphierte der kräftigste Mann unter den Kontrolleuren und stellte sich so, dass es kein Entkommen für die Schwarzfahrer gab. Die drei verstummten. Gaben sich beeindruckt von der Obrigkeit.
Clint stand fassungslos da. Tatenlos musste er mit ansehen, wie ihm seine Beute aus den Fängen geriet. Und der hagere Mann zog beruhigt wieder die Hand aus der Manteltasche und las lächelnd weiter in seiner Zeitung.
[ 1157 ]
Der Bus mit den Campteilnehmern überquerte den Hohenzollerndamm und nahm Kurs auf Dahlem, zum Ethnologischen Museum. Es hatte zu regnen begonnen. Dunkle Wolken türmten sich über Berlin. Ein Grollen lag in der Luft und kündigte ein Gewitter an.
Der Begleiter, der die Jugendlichen bei ihrem Ausflug betreute, war ein scheinbar altersloser Wissenschaftler, ein Ethnologe. Mit seinem Bart und seinen ziemlich langen, dunklen Haaren erinnerte er an einen Jesusdarsteller. Es war Professor Dr. Schifter. Über das Mikrofon erklärte er der Gruppe, dass das Museum 1873 gegründet worden war und mit über einer halben Million Ausstellungsstücken eines der größten Museen der Welt war.
Linus hörte kaum zu, während der Mann mit tiefer Stimme ausführte, dass die ersten Artefakte des Museums aus den sogenannten Wunderkammern der Schlösser preußischer Fürsten und Kurfürsten stammten.
„Eine Art Panini-Bildersammlung für Reiche“, sagte er. „Im Museum werdet ihr ganze Häuser finden, die Forscher in fremden Ländern abgebaut haben. Auch vollständige Schiffe von den pazifischen Inseln. Von Inseln, deren Kultur bereits ausgestorben ist.“
Theresa, die in der ersten Reihe Platz genommen hatte, klatschte beflissen. Und nervte Linus gewaltig. Diese vielen, klugen Kids plapperten durcheinander und prahlten damit, was sie schon alles an Museen und Kontinenten gesehen hatten.
Die meisten von denen sind sicher schon im Kindergarten mit Englisch und Französisch und Geografie vollgestopft worden und nun kommt es ihnen wieder aus dem Mund und aus den Ohren und aus sämtlichen Körperöffnungen heraus, dachte Linus und verzog sich auf das Oberdeck des Busses. Er starrte zum Fenster hinaus und dachte an den Stick in seiner Tasche. Was hatte er wohl in den wenigen Minuten alles vom Laptop der Campleiterin kopieren können?
Edda war unten sitzen geblieben. Sie hatte es nicht über sich gebracht, sich von Thorben zu entfernen, der immer wieder zufällig ihr Bein oder ihre Hände berührte.
Simon saß ganz allein in der letzten Reihe des Busses. Er hatte die Stöpsel seines I-Pods in den Ohren und hörte eine CD von Eminem, die er sich illegal heruntergeladen hatte. Er versuchte, sich den Text des Songs einzuprägen,
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