Abaton
sollte.
„Vermutlich fragt ihr euch, in welchem Zusammenhang unser Museumsbesuch mit der Zukunftsvision steht, dem Thema der Arbeit, dem ihr euren Aufenthalt im Camp verdankt? Hat jemand von euch eine Idee?“
Schweigen.
„Wir werden uns gleich in zwei Gruppen teilen“, fuhr Professor Schifter fort. „Beide Gruppen werden sich auf unterschiedliche Weise mit dem gleichen Thema beschäftigen. Es geht um den Untergang einer Kultur. Kennt jemand von euch untergegangene Kulturen?“
„Die Maya“, sagte Thorben.
„Was ist das – Bienensterben oder was?“, fragte Linus provokant.
„Maya mit »y«. Richtig, Thorben“, sagte Schifter und sah ihn mit seinen freundlichen Augen an.
Edda gefiel, dass der Professor mit ihnen wie mit Erwachsenen redete. Sie fühlte sich gut hier.
„Die Maya sind spurlos verschwunden“, fügte er erklärend hinzu.
„Manche glauben, dass das Außerirdische waren, aber das ist Schwachsinn“, ergänzte Thorben und blickte stolz Edda an, die keine Reaktion zeigte.
Schifter nickte. „Weitere Vorschläge?“
„Die Römer.“
„Die Griechen.“
„Die gibt’s doch noch!“, rief Theresa.
„Die frühen Griechen, Theresa. Sokrates, Plato, Parmenides ... du weißt schon. Deren Kultur ist tatsächlich untergegangen!“
„Nur Tsatsiki hat überlebt“, sagte Linus trocken.
Alle lachten. Linus bemühte sich zuzuhören, aber das hier interessierte ihn nicht mehr. Das war nichts Praktisches. Seine Gedanken kehrten immer wieder zum Inhalt der Dateien zurück, die er auf seinen Stick geladen hatte. Er nahm sich vor, die nächste Chance zu nutzen, sich den Inhalt auf seinem I-Phone anzuschauen.
„Es soll hier und heute aber nicht um Hochkulturen gehen“, sagte Professor Schifter, „sondern darum, woran eine Kultur zugrunde gehen kann. Ich schlage vor, dass wir uns in zwei Gruppen aufteilen. Die auf der rechten Seite kommen mit mir und die auf der linken warten hier – mein Kollege Dr. Bohari holt euch dann ab.“
Ein dunkles Gesicht tauchte im Eingang des Bai auf und begrüßte die Jugendlichen. Bohari war ebenfalls Ethnologe. Edda, Simon, Linus und auch Thorben und Theresa waren in der Gruppe von Professor Schifter. Sie verließen alle das Bai. Keinem von ihnen war der Vermerk unter der Beschreibung des Bai aufgefallen: »Leihgabe der Stiftung Bernikoff«.
[ 1159 ]
Simon musste lächeln.
Edda und Linus sahen es verwundert, sie konnten es nicht verstehen. Umzingelt von den Kontrolleuren standen sie noch in der S-Bahn. Ihre Verfolger lauerten scheinbar desinteressiert nur Meter entfernt und in ein paar Minuten würden sie der Polizei übergeben werden. Nicht gerade eine witzige Situation. Doch Simon lächelte noch immer.
Weil er auf den Griff der Notbremse schaute. Nicht, weil er sie ziehen wollte. Sondern weil er plötzlich das Gesicht sah, das ihn da anlachte. Die beiden Schrauben wie Augen und der Griff wie ein riesiges lachendes Maul. Er lächelte, weil er jetzt auf einmal verstand, wovon David immer geredet hatte. Sein kleiner Bruder hatte immer und überall diese Gesichter gesehen. In der Holzverkleidung an der Wohnzimmerwand. In den Wolken. Aufgerissene Mäuler, wenn die Mülltonnen offenstanden ... Stundenlang konnte David auf dem Klo hocken und die Heerscharen von Ungetümen im Fliesenboden erkennen. Er lebte mit diesen Wesen. Nachts, wenn sie beide im Bett lagen und nicht schlafen konnten, weil sich die Eltern wieder mal stritten, da berichtete David seinem großen Bruder davon, dass überall Leben war. Dass er überall Freunde hatte. Dass ihm deshalb nie etwas geschehen konnte.
Simon hatte seinen Bruder ausgelacht, als David sich ihm anvertraute. Und dennoch, David war so störrisch bei seiner Meinung geblieben, wie es nur kleine Brüder können. Und so saß Simon nach Davids Tod immer ewig auf der Toilette und glotzte auf den Boden. Doch da war nichts.
Aber gerade eben, in dem Moment, als er auf den roten Nothalt geschaut hatte, begriff Simon, dass er es nie gesehen hatte, weil er immer von „toten Dingen“ ausgegangen war. Was wäre, wenn wirklich überall Leben ist?
Die S1 fuhr im Bahnhof Friedenau ein. Am gläsern überdachten Ausgang des Bahnsteigs warteten schon zwei Polizisten. Ein dicker Mann und eine große, rundrückige Frau. Als sie die Kontrolleure und die Jugendlichen aussteigen sahen, strafften sie die Schultern. Nervende Routine war das Signal, das ihre Gesichter aussandten. Solche Einsätze zogen meist jede Menge Ärger und Papierkram
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