Abaton
Letzte, der an diesem Morgen noch duschte. Das war seine Absicht.
Er ließ sich Zeit mit dem Abtrocknen, zog sich an und schlenderte in einem großen Bogen um das Lager herum und näherte sich von der Rückseite dem Wohnwagen, in dem die Campleiterin ihr Büro hatte.
Unter der Dusche hatte Linus beschlossen, sich jetzt, da alle beim Frühstück saßen, Gewissheit zu verschaffen. Was wusste die Campleiterin über ihn? Was war in ihrem Computer gespeichert? Er musste wissen, ob seine Mission in Gefahr war.
Beim Wohnwagen angekommen, sah er sich um, klopfte an, und als niemand antwortete, betätigte er die Klinke. Die Tür war verschlossen. Aber Linus hatte ja die Weste mit den vielen Taschen an. Und er wusste genau, in welche er greifen musste. Er zog einen Bund mit Dietrichen hervor. Im Rahmen der Vorbereitung für seine Mission hatte sich Linus von Tarik auch in das Geheimnis der lautlosen Türöffnung einweihen lassen. Tarik war ein wahrer Künstler in dieser Disziplin. Er konnte jede Tür öffnen, ohne das Schloss zu zerstören. Und er zelebrierte es.
„Ein perfektes Gehör brauchst du“, hatte er Linus erklärt. „Wie in der klassischen Musik. Manches Schloss macht Musik wie Mozart, manches wie Haydn, ein anderes wie Beethoven ... Die schwierigsten sind die Schönberg-Schlösser. Das ist die hohe Kunst. Und die einfachsten sind die Wagner-Schlösser. Richard Wagner. Groß und wuchtig, aber ganz simpel.“
Linus war froh, dass das Schloss des Wohnwagens eher aus der Kategorie Volksmusik stammte. Gleich der erste Dietrich entpuppte sich als der richtige und schon war das Schloss geöffnet.
Linus trat ein.
Was er gesucht hatte, stand mitten auf dem Tisch.
Mit einem Druck auf die Tastatur sprang der Bildschirm des Laptops an. Das Logo des Camps und ein paar Ordner waren zu sehen. Linus steckte seinen Stick in den Computer und zog die ersten paar Ordner darauf. Sechs Minuten Kopierzeit.
Gefährlich.
Zu gefährlich.
Er lauschte auf Geräusche von draußen. Dann brach er den Kopiervorgang ab, klickte den Ordner »Teilnehmer« an und öffnete die Datei mit seinem Namen. Darin fand Linus seine Biografie, die Namen seiner Eltern, seine Hobbys und die Information, dass er seit einem Jahr bei einer Pflegefamilie lebte. Er scrollte nach unten und stieß auf den Hinweis, dass seine Eltern verschwunden waren. Und dass er ein Komplott dahinter vermutete. Linus nickte. Sie wussten also, dass er nicht an ein Unglück glaubte.
Aber woher?
Linus beschloss, doch den ersten Ordner zu kopieren, und begann den Kopiervorgang erneut. Verdammt, hätte er das doch gleich gemacht!
Besser, er hätte es nicht getan. Denn auf dem Laptop gab es ein Programm, das alles automatisch speicherte, was sich auf einem Medium befand, das über einen USB-Anschluss mit dem Rechner verbunden war. Genauso wie Linus Dateien aus dem Laptop stahl, wanderten seine Dateien nun auf den fremden Rechner.
Plötzlich Schritte. Linus hatte keine andere Wahl. Er musste den Stick abziehen. Gleich würde sich die Tür zum Wohnwagen öffnen. Linus steckte den Stick ein, zog sein Messer und klappte die scharfe Klinge aus ...
[ 1150 ]
Edda, Simon und Thorben aßen in diesem Moment Müsli und erfuhren, dass sie nach dem Frühstück mit dem Bus ins Museum für Völkerkunde gekarrt werden sollten. Als sie fertig gegessen hatten, bemerkte Simon, dass Linus immer noch fehlte.
„Verpisst sich, oder was?“
„Sollen wir denen was sagen?“, fragte Edda.
„Lasst ihn doch“, sagte Thorben großzügig. „Wenn er keinen Bock hat.“
[ 1151 ]
Blut. Von Linus’ kleinem Finger tropfte Blut. Es sah schlimmer aus, als es war. Und das war gut so. Denn die Campleiterin starrte sofort darauf, als sie in den Wohnwagen kam. Sie kam erst gar nicht auf die Idee, dass es einen anderen Grund für Linus’ Anwesenheit in ihrem Wohnwagen gab als seine Verletzung. Sofort kramte sie in dem Verbandszeug, fischte einen Mullstreifen heraus und reichte ihn Linus.
„Draufdrücken. Fest draufdrücken!“
Dann sprühte sie Desinfektionsspray auf die Wunde. Linus sog die Luft durch die Zähne ein, als würde es höllisch wehtun. Er gab jetzt gerne das Weichei. Sollte die Campleiterin doch glauben, dass er wegen der Ersten Hilfe gekommen war. Das Messer, das ihn hätte verraten können, steckte wieder tief in seiner Tasche.
„Wie ist das passiert?“
„’ne verdammte Scherbe ...“
„Na, komm schon. Du bist ein Junge ... Du hältst das doch aus. Oder?“
Sie kniete vor
Weitere Kostenlose Bücher