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Abaton

Abaton

Titel: Abaton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Jeltsch
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spulte immer wieder zurück und bekam kein Wort von dem mit, was der Mann am Mikrofon erzählte.
    Er war ganz bei dem Song. »Not afraid ...« Er rief sich das Video ins Gedächtnis. Eminem auf dem Dach. Nur einen Schritt davor, in die Tiefe zu stürzen. Oder zu fliegen? »You’re not alone ...« Simon spürte eine Sehnsucht nach dem, was diese Zeile besagte. „Du bist nicht allein“. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er dieses Gefühl noch einmal gehabt hatte, nach Davids Tod, nach dem Auszug seines Vaters, nachdem Mumbala seine Mutter erobert hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dieses Gefühl von Gemeinschaft, von Nähe und Vertrauen, von Freundschaft und Zuneigung jemals wieder zu haben. Vielleicht war das auch gut so, dachte Simon. Dann konnte ihn wenigstens niemand mehr verletzen ... »I’m breaking out of this cage, I’m standing up, Imma face my demons.« Simon schloss die Augen und ergab sich der Musik.
    Es goss in Strömen, als der Bus in Dahlem vor dem Museum hielt. Die Teilnehmer stiegen aus und huschten in das Gebäude. Keiner hatte einen Blick für den silbernen Van, der zur gleichen Zeit in der Nähe einparkte. Einzig Simon blieb stehen. Doch er schaute nur fasziniert zum Himmel, an dem sich Blitze abzeichneten. Als er vier oder fünf gewesen war, hatte er seinem Vater eine Erfindung präsentiert. Er hatte alles aufgezeichnet, auf seinem Bauch. Weil er in dem Moment, als er die Idee hatte, nur einen Kuli, aber kein Papier zur Hand hatte. Also zeigte er seinem Vater, der am Schreibtisch arbeitete, seinen Bauch. Es war ein Plan, wie man mit einem metallenen Drachen Blitze anlocken und einfangen könnte, um ihre Energie in Batterien zu speichern.
    „Stör Papa nicht“, hatte seine Mutter gesagt. „Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder.“
    Damit hatte sie Simon geschnappt und ihn in die Badewanne gesteckt, um seine kindliche Zeichnung auf dem Bauch abzuwaschen. Der Vater hatte nicht einmal zu Simon hingeschaut.
    [ 1158 ]
    Professor Schifter und die Campteilnehmer strömten in den größten Raum des Museums, in dessen Mitte ein weiträumiges Holzhaus aufgebaut war. Das Dach bestand aus Palmenblättern.
    Der Ethnologe erklärte den Jugendlichen, dass bei der Fertigstellung keine Nägel oder Klebstoffe verwendet worden seien, sondern man das Holz durch Verzapfung ineinandergefügt gefügt habe.
    Jetzt war auch Linus wieder bei der Sache, wie immer, wenn es darum ging, praktische Dinge zu lernen. Vor allem, wie man etwas ohne fremde Hilfsmittel zusammenfügen konnte.
    Das Haus war ein Männerhaus aus Palau, Bai genannt, wie der Ethnologe erzählte.
    Die Jugendlichen zogen ihre Schuhe aus, betraten das Innere und setzen sich auf den Boden. Die glatten Planken und Balken des schönen Hauses waren mit Schnitzereien verziert, die Bilder aus dem Alltag sowie aus den Mythen und Legenden der Palau zeigten.
    „Dieses Bai diente den unverheirateten Männern der Insel als Clubhaus“, sagte Professor Schifter. „Eine Art prämoderne Disco.“
    „Und die Frauen?“, fragte die altkluge Theresa. „Oder war ihr Schicksal wieder nur, geheiratet zu werden und den Männern zuzugucken, wie sie Party machen? Dann habe ich keine Lust mehr, davon zu hören.“
    Die Jugendlichen lachten. Der Professor auch.
    „Im Gegenteil. Die eigentlichen Machthaber auf Palau waren die Frauen. Vor allem die alten, weisen Frauen. Sie wählten die Häuptlinge und setzen sie auch wieder ab. Die unverheirateten Frauen hingegen besuchten die Männer anderer Dörfer in einem Männerhaus wie diesem, um sich dort einen Partner auszuwählen. Sie wurden übrigens entlohnt. Unsere deutschen Missionare dachten, es handele sich bei diesem Brauch um Prostitution, und verboten ihn. Sie begriffen nicht, dass er lediglich Teil einer komplizierten Tausch- und Erbpolitik der Palau war. Wie wir sehen, ist nicht alles das, was es auf den ersten Blick zu sein scheint.“
    Sogar Edda hörte jetzt interessiert zu. Dieser Professor Schifter hatte eine Art zu sprechen, die selbst scheinbar langweilige Zusammenhänge spannend klingen ließ. Edda sah sich in dem großen Holzhaus um. Es war ein merkwürdiges Gefühl, hier zu sitzen und von einer fremden Kultur zu hören, zu erfahren, wie es den Menschen darin ergangen war, wie sie sich kennenlernten und zueinanderfanden. Sie hätte gern gefragt, ob sie auch Sex in diesen Häusern gehabt hatten, aber sie traute sich nicht. Edda beschloss, Ethnologie zu studieren, falls sie das Abitur schaffen

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