Abaton
brauchte eine Steckdose. Hier im Raum konnte er keine entdecken. Simon drehte sich kurz zu ihm um und steckte demonstrativ den Finger in den Hals. Linus nickte. Er schaute kurz auf die Leinwand und dann auf die Uhrzeit auf seinem I-Phone. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Er war frustriert. Dann entdeckte er jedoch die schmale Tür ganz in seiner Nähe. Im Schutz der Dunkelheit huschte er hinaus.
Auf der Leinwand wurde von der wachsenden Popularität Engelhardts berichtet. Immer mehr Menschen reisten aus Deutschland in die Südsee, um seinen Theorien zu folgen und ein unbeschwertes, natürliches Leben unter der Sonne zu führen. Und der freien Liebe zu frönen. Doch die Menschen wurden krank, starben, Freundschaften zerbrachen und es kam sogar zu einem Mord wegen einer Frau, die einer der Männer aus Deutschland mitgebracht hatte. Schließlich löste sich die Gemeinschaft auf. Der Traum vom freien Leben zerbrach und als der Erste Weltkrieg begann, wurde Engelhardt interniert und lebte am Ende allein auf seiner Insel. Eine traurige Touristenattraktion.
Als das Licht wieder anging, lachte niemand mehr. Es war ruhig geworden unter den jugendlichen Zuschauern.
„Ich möchte mit euch darüber diskutieren, woran eine im Grunde so schöne Vision zugrunde gehen kann“, sagte Professor Schifter. „Denn eigentlich kann man doch sagen, dass Engelhardt das Paradies auf Erden gefunden hatte. Er musste nicht arbeiten, die Sonne schien und das Essen lag buchstäblich vor seiner Haustür.“
„Ich finde das keine schöne Vision, wenn Menschen ohne ärztliche Versorgung nackt in der Gegend herumlaufen müssen. Ohne Gesetze und jede Zivilisation. Das war doch total steinzeitlich“, sagte Thorben.
Einige stimmten ihm zu. Schifter wandte sich an einen anderen Jungen, der sich gemeldet hatte.
„Die Sache war nicht richtig geplant“, sagte der. „Ich glaub auch nicht, dass man sich als Europäer nur von Kokosnüssen ernähren kann. Irgendwann knallt man dann durch wie dieser Typ.“
Edda hatte sich die ganze Zeit zurückgehalten. Der Film hatte sie an die Gemeinschaft in Indien erinnert, wo sie einen Teil ihrer Kindheit verbracht hatte. Gegen ihren Willen hatte sie nach und nach Mitleid mit diesem armen Mann bekommen, den die Aufnahmen in seinem Lendenschurz und übersät mit Geschwüren gezeigt hatten.
„Ich finde, er hat wenigstens etwas anderes versucht“, sagte Edda schließlich. „Er ist für seine Ideale eingestanden. In seinem Land hat man ihn nicht gelassen, also ist er weggegangen. Ist doch konsequent. Ich find’s total bescheuert, über so jemanden zu lachen. Wenn einer etwas völlig Neues ausprobiert, ist es ja wohl klar, dass er Fehler macht.“
Simon sah sie neugierig an. „Ich find, sie hat recht.“
Zustimmendes Gemurmel erhob sich. Nur Thorben widersprach vehement: „Idiotisch! Wenn’s nur um ihn gegangen wär, okay. Aber er hat das Leben von Menschen gefährdet!“
„Niemand hat sie gezwungen, nach Kabakon zu gehen“, erwiderte Edda.
Eine rege Diskussion entspann sich unter den Jugendlichen. In deren Verlauf wurde Edda klar, dass sie nicht für Engelhardt, sondern für sich selbst sprach. Für etwas, von dem sie bislang der Ansicht gewesen war, es zu hassen. Eigentlich war Edda allergisch gegen alles, was mit Sekten zu tun hatte. Trotzdem nahm sie den Mann und seine Versuche, ein anderes Leben zu leben, jetzt in Schutz.
„Könntet ihr euch vorstellen, dass sein Verhalten etwas mit dem nahenden Ersten Weltkrieg zu tun hatte?“, fragte Professor Schifter. Die Kinder schüttelten die Köpfe. Woher hätte Engelhart das wissen sollen?
„Manche Menschen haben Ahnungen. Können bevorstehende Ereignisse spüren“, sagte Edda. Sie selbst spürte in diesem Moment, dass sie wieder mit dieser wunderbaren Sicherheit reden konnte. Wie am Tag zuvor, als sie ihre wahre, ihre eigene Vision der Zukunft präsentiert hatte. „Irgendwie ist die Vision von diesem Engelhardt das krasse Gegenteil von dem, was damals in Deutschland passiert ist. Das Marschieren, die Bomben und das Gas. Irgendwie war er der erste Hippie.“
„Trotzdem ist er abgekratzt!“, rief Thorben ärgerlich. Gern wäre er mit Edda einer Meinung gewesen, schaffte es aber nicht, mit seinen Ansichten hinterm Berg zu halten.
„Irgendwann kratzt du auch ab“, sagte Simon. „Wenigstens hat er in der Sonne und auf einer schönen Insel gelebt, konnte tun, was er wollte, und hat nicht wie die Soldaten andere Menschen
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