Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
Haupteingang hängt.“
Edda folgte Lucy über den schwach erleuchteten Gang zum Zimmer der Nachtschwester, die in einem Buch las, als die beiden Mädchen auf dem Gang auftauchten.
„Scheiße“, flüsterte Lucy leise und blieb einen Augenblick stehen. „Die alte Otti! Die ist mit Jesus verheiratet. Strenger geht´s nich.“
Schwester Otti sah die beiden Mädchen, die sich zaghaft lächelnd auf dem Gang näherten. Vor ihr auf dem Tisch stand eine Thermoskanne, daneben lag eine Brotzeit.
„Was?!“
„Die Edda hier ist neu und sehr gläubig“, improvisierte Lucy, „und ich wollte für sie fragen, ob wir nicht eine Bibel haben könnten. Sie meint, es würde auch mir helfen. Es ist hohe Zeit, mich von meinen Sünden reinzuwaschen, sagt sie.“
Edda nickte brav und Schwester Otti schaute sie skeptisch an. Die Mädchen spürten, dass die Schwester dabei war nachzugeben, und Lucy setzte nach.
„Edda hat mir so viel Schönes über das Buch der Bücher erzählt.“
Otti zögerte einen Augenblick und schaute auf die beiden Mädchen, die so liebreizend und unschuldig wie möglich im Mondlicht standen. Die Schwester kannte diesen Gesichtsausdruck zu Genüge. Die Zeiten mochten sich ändern, aber die Tricks blieben immer die gleichen.
„Nun, jeder Sünder hat eine Zukunft ...“
„... und jeder Heilige eine Vergangenheit“, ergänzte Edda sehr zum Erstaunen von Schwester Otti. „Das hat meine Großmutter immer gesagt.“ Edda senkte andächtig den Blick.
Schwester Otti war überzeugt. Sie stand auf und ging zu einem großen Schrank, schloss ihn auf. Lucy nutzte den Moment und kippte unter Eddas entsetzten Blicken das Pulver aus ihren Medikamentenkapseln in Schwester Ottis Tee. Sie rührte noch schnell mit dem Finger um, als die Schwester sich schon wieder umdrehte. Schnell huschte Edda in das Blickfeld und gab so Lucy Zeit eine unauffällige Haltung einzunehmen.
„Und jetzt ab ins Bett. Heut Nacht will ich nichts mehr hören“, sagte Schwester Otti.
„Keine Sorge, werden Sie gaaanz bestimmt nicht“, sagte Lucy.
„Was glaubst du, passiert?“, fragte Edda.
Lucy grinste verschwörerisch.
„Die knackt weg, wenn sie den nächsten Tee trinkt.“
Die Mädchen lagen auf den Matratzen und blickten auf den Mond, der durch die Gitterstäbe in das Zimmer schien.
„Hast du alle reingetan?“, fragte Edda.
Lucy nickte.
„Die volle Dröhnung!“ Sie kicherte. „Bei Vollmond wird mir immer ganz anders. Das liegt an Ebbe und Flut.“
„Nee!“, sagte Edda, „Ebbe und Flut liegt am Mond.“
Unsicher starrte Lucy sie an.
„Echt? Wie soll´n das gehen?“
„Wegen der Anziehung zwischen der Erde und dem Mond und der Sonne. Die ist nich überall gleich. Dadurch senkt sich der Meeresspiegel.“
„Echt? Egal. Ändert auch nichts dran.“
Sie lachten. Dann war es wieder ruhig im Zimmer.
„Wie’s der jetzt wohl geht?“, fragte Edda und fing leise an, wie ein Wolf zu heulen. Irgendwann stimmte Lucy ein. Sie heulten beide den Mond an und je länger es dauerte, desto mehr wurde ihr Geheul zu einem Lied, das sie komponierten, während sie es sangen, nein, heulten, und das sie verband, ohne dass sie ein Wort sagten. Länger und höher wurden die Töne, bis sie keine Luft mehr bekamen und bis es in Lachen überging und die beiden Mädchen über die Matratzen rollten. Edda nahm die Bibel und schlug sie auf.
„Deine zwei Brüste sind wie zwei junge Rehzwillinge“, las sie. Lucy lachte auf.
„Zeig! Das steht da nicht!“
„Doch!“, sagte Edda und Lucy riss das Buch wieder an sich. Sie wählte eine andere Stelle. „Der Herr wird dich schlagen mit bösen Drüsen an den Knien und Waden, dass du nicht kannst geheilt werden, von den Fußsohlen an bis auf den Scheitel!“
Edda kreischte vor Lachen.
„Hardcore!“
„Die alte Otti hat voll die Sado-Nummer drauf. Los, gehen wir!“ Lucy rieb sich die Hände „Ach, das wird cool!“
Sie schlichen wieder über den Gang zum Stationszimmer. Schon von Weitem hörten sie, dass das Radio lief. Klassische Musik. Choräle. Und Schnarchen. Schwester Otti hatte alle viere von sich gestreckt und lag mit dem Kopf auf dem Tisch. Mit jedem Schnarcher pustete sie die Seiten ihres Gebetbuches in die Höhe.
Die Mädchen mussten sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. Lucy stibitzte den Schlüssel und Edda griff zum Telefon und wählte die Nummer eines Taxiunternehmens.
„Nachtschwester Otti im Josephinum Kinderheim“, sagte sie mit tiefer Stimme und nannte
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