Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
Simon. Der schnappte das Seil, wandte sich zu Edda.
„Jetzt du!“ Ohne weitere Worte knotete er Edda fest, so wie es Linus getan hatte. Dann versuchte Edda es Linus nachzumachen. Aber sie hatte nicht die Kraft, den Rücken so gerade zu machen, dass sie über die Wand gehen konnte.
Das Wasser war schon so weit gestiegen, dass der Vorsprung, auf dem Edda und Simon standen, überspült wurde. Edda schlotterte am ganzen Körper. Ihre eiskalten Hände hatten nicht mehr die Kraft, das Seil festzuhalten.
„Geh du! Ich kann nicht mehr.“
„Hey! Red nicht so eine Scheiße!“, ging Simon sie an. Er hatte das mal in einem Vietnamfilm gesehen. Da konnte einer der Soldaten auch nicht mehr und der Vorgesetzte redete ihm nicht gut zu, sondern brüllte den Soldaten an, um ihn wütend zu machen. Mit der Wut mobilisierte der Soldat seine letzten Kräfte. Und überlebte.
„Reiß dich zusammen, du Opfer! Auf Kleinmädchen machen, das zieht nicht! Los! Auf meine Schultern!“
Simon ging in die Hocke. Brüllte noch ein paar Gemeinheiten, bis Edda wütend wurde und sich wehrte.
„Bist du noch ganz dicht? Wichser!“
Simon lachte.
„Auf meine Schultern! Los! Dann schwingst du rüber. Und hör endlich auf zu flennen!“
„Du hast mir gar nichts!“
„Und ob. Weil du hier das arme, kleine Opfer spielst und selber nichts draufhast! Scheiße! Auf meine Schultern!“
Edda begriff, dass die Idee nicht ganz blöd war. Sie stieg auf Simons Schultern. Der ging noch einen Schritt näher an die Mauer, unter der das Wasser verschwand, damit Edda parallel dazu schwingen konnte. Linus hatte sofort begriffen, was Simon vorhatte und postierte sich an den Rand des Steges, um Edda aufzufangen.
„Nicht einfach fallen lassen wie ein nasser Sack!“, schrie Simon. „Hochspringen, damit du noch mehr Schwung bekommst!“
„Ach ja, Idiot?“
Damit stieg Edda mit einem Fuß auf Simons Kopf, stieß sich hoch nach hinten ab, wie sie es im Zirkus bei den Trapezartisten einmal beobachtet hatte. Damit hatte sie viel Schwung geholt. Sie sauste nach unten, am gestrafften Seil. Mit angezogenen Beinen pendelte sie über die reißende Kloake hinweg. Auf Linus zu. Die Arme weit ausgebreitet, stand er da. Er hatte die Taschenlampe weggelegt, um Edda festhalten zu können. Edda hatte immer noch Schwung. Mehr als gedacht. Wie ein Geist tauchte sie plötzlich aus dem Schwarz des Untergrunds auf und rammte Linus. Er wankte, fiel. Aber er hatte sie schon an den Beinen gepackt und klammerte sich fest. Edda war gerettet.
„Mit der Nummer kackt ihr in jedem Zirkus ab. Aber so was von ...“, brüllte Simon herüber und leuchtete die beiden an. „Großartig gemacht!“
Edda und Linus lachten erleichtert. Schnell hatten sie Edda von dem Seil befreit und Linus schleuderte es wieder hinüber zu Simon. Diesmal aber spannte sich das Seil zu früh, schlackerte wild und Simon griff ins Leere. Das Seil schnellte zurück, das Werkzeug am Ende taucht ins Wasser und wurde mitgerissen. Der rettende Faden, an dem Simons Leben hing, kam auf halber Strecke zur Ruhe, senkrecht unter dem Stahlträger. Unerreichbar. Die drei schwiegen. Simons Schuhe standen längst im Wasser. Er überlegte nicht lange. Er musste jetzt den Weg gehen, den er anfangs probiert hatte. Über den schmalen Vorsprung, der die Wölbung des Tunnels nach unten begrenzte. Simon ließ seinen Rucksack liegen. Er konnte jetzt nichts brauchen, das sein Gewicht erhöhte. Dann zog er seine Schuhe aus und schleuderte sie hinüber zu Edda und Linus. Barfu ß hatte er besseren Halt. Simon setzte seinen linken Fuß auf den Mauervorsprung hinter den Stein, der beim ersten festen Tritt zerbröselt war. Linus leuchtete mit der Taschenlampe herüber auf die Stellen der Mauer, die für Simon entscheidend waren. Simons Finger tasteten nach möglichst tiefen Fugen zwischen den Backsteinen über ihm. Der Verband an seiner linken Hand machte es ihm doppelt schwer, doch er fand eine tiefe Nische. Die Finger der linken Hand klammerten sich fest und entlasteten das Gewicht, das auf dem Mauervorsprung lastete. Simon zog sich hoch und brachte den rechten neben den linken Fuß auf den Stein. Vorsichtig setzte er den linken Fuß weiter. Wie ein Spot leuchtete Linus. Der Stein lockerte sich.
„Nicht!“, rief Edda. „Nicht der. Einer weiter.“
Simon schwitzte, obwohl er durchnässt vom eiskalten Wasser war. Seine Zehen tasteten sich weiter. Er konnte nichts erkennen, auch wenn er hinschaute. Zu nah musste er mit dem Kopf
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