Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
Greta konnte nichts tun.
Hätte sie vorher etwas tun können? Hätte sie dem Rat Victors, ihres Mitarbeiters aus Boston, folgen und die Kinder längst zurückholen sollen? Hätte sie ihnen alles erklären sollen? Wie oft hatte Greta sich gegen den Vorwurf der Hartherzigkeit wehren müssen. Wenn die Wende zum Guten von Dauer sein sollte, dann mussten diese Kinder all den Härten ausgesetzt bleiben. Sie mussten sich bewähren. So schwer sie auch zu kämpfen, so sehr sie auch zu leiden hatten. Es ging um den wichtigsten Schritt in der menschlichen Evolution. Was zählten da schon die Vorlieben und Grenzen dreier Kinder und die Bedenken politisch korrekter Gutmenschen, wenn es um mehr als neun Milliarden Menschen ging? Wenn die drei in der Kanalisation umkommen würden, dann waren es eben doch nicht die Richtigen. So traurig das war. Dann würde Greta weitersuchen müssen.
Sie zwang sich wieder auf die drei Signale zu schauen und hörte, wie sich hinter ihr mit einem leisen Geräusch die Zugangstür öffnete und wieder schloss. „Louise“, dachte Greta. Ohne sich umzudrehen hatte sie Maries Zwillingsschwester an ihren Schritten erkannt.
„Ist noch Hoffnung?“, fragte Louise.
„Wie geht es Marie?“, stellte Greta die Gegenfrage.
„Sie schläft einen traumlosen Schlaf. Die Aufzeichnungsgeräte laufen“, antwortete Louise. Die beiden Frauen schauten gebannt auf den Bildschirm, auf dem sich die drei Punkte bewegten.
| 2108 |
Licht. Es wurde ein wenig heller. Der Kanal weitete sich endlich wieder. Edda, Linus und Simon hatten nun genügend Platz bis zur Decke. Doch die Strömung war so stark, dass sie trotz ihrer verzweifelten Schwimmversuche vom rettenden Ufer weggetrieben wurden. Gut zwanzig Meter weiter verschwanden die Wassermassen wieder in einem engeren Tunnel.
„Mauervorsprung!“
Linus zeigte mit seiner Taschenlampe darauf. Sofort versuchten die drei die gegenüberliegende Seite von dem Steg zu erreichen. Hier war ein schmaler Sims, der noch ein gutes Stück über dem Wasser lag. Die unterirdische Flut trieb sie genau auf den Vorsprung zu. Linus’ Hand griff zu und klammerte sich an einem der rauen Backsteine fest. Mit der anderen Hand hielt er Edda. So lange, bis auch Simon Halt gefunden hatte. Gemeinsam zogen sie Edda in das ruhige Gewässer, das sich hier vor dem Mauervorsprung gebildet hatte. Linus stemmte sich auf den Sims und setzte sich darauf. Er zog Edda zu sich hinauf und half dann Simon.
Erschöpft hockten sie auf dem schmalen Vorsprung. Das Wasser tobte an ihnen vorüber. Sie waren noch längst nicht in Sicherheit, sondern mussten irgendwie den reißenden Strom überqueren und auf die andere Seite gelangen. Simon leuchtete auf die Mauer, unter der der Kanal wieder in das Dunkel verschwand. Der schmale Sims setzte sich dort im Halbrund fort und führte bis hinüber auf die andere Seite.
„Du bist wahnsinnig!“
Linus ahnte, was Simon vorhatte.
„Jetzt wär ’n Handy nicht schlecht“, sagte Edda. Sie grinsten. Sie alle wussten, dass Simon recht hatte: Das Wasser stieg unerbittlich weiter an. Wenn sie dieser Hölle entkommen wollten, dann ging es wohl nur über den Balanceakt entlang des Mauervorsprungs, der sich über den Kanal wölbte. Simon studierte die Beschaffenheit des Mauerwerks, so gut es mit der Taschenlampe und seinen Fingern ging. Sicher war er nicht, dass die Backsteine, die da seit Jahrzehnten herausragten, sie tragen würden. Er trat gegen einen der Ersten. Der Stein gab nach und rieselte in das reißende Wasser.
„Harakiri!“, sagte Linus.
„Und wenn wir das Boot nehmen?“, fragte Edda. In Linus’ Rucksack war ein kleines, aufblasbares Badeboot versteckt, mit dem sie Marie über den unterirdischen Kanal wegschaffen wollten. War das vielleicht die Rettung?
„Was ist, wenn es wieder so eng wird?“ Simon schüttelte den Kopf. Es war keineswegs sicher, dass nicht irgendwo in dem Tunnel wieder ein Gitter den Weg versperrte. Außerdem hatten sie keine Ahnung, wo sie wieder auftauchen würden.
„Ist eh nur Platz für einen in dem Badeboot“, sagte Linus. Er gab Simon recht.
„Ich hab Angst“, gab Edda zu. Die einzige Möglichkeit, die ihnen blieb, war über den Sims auf die andere Seite zu klettern und zu ihrem Wagen zurückzukehren. Sie zitterte. Vor Kälte, vor Verzweiflung. Traurig schaute sie die Jungs an.
„Tut mir leid, dass ich euch das eingebrockt hab.“
„Das haben wir gemeinsam entschieden“, sagte Simon.
Linus ließ ebenfalls keinen
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