Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
der entscheidende Moment gewesen zu handeln. Sie verpassten ihn nicht. Retteten Linus vor einer Gehirnwäsche, kämpften sich aus dem Labyrinth des GENE-SYS- Komplexes am Teufelsberg und entkamen in dem Wagen, in dem Linus von Köln bis nach Berlin gelangt war.
Diesmal irrten sie schweigend durch die nächtliche Stadt und wussten nicht wohin. Linus stoppte an einer roten Ampel. Als neben ihnen eine Polizeistreife hielt, wandte er unauffällig den Kopf zur anderen Seite und schaute beiläufig aus dem Fenster. Die Beamten kümmerten sich nicht um die drei Jugendlichen und die Tatsache, dass der Fahrer des Wagens mit dem Kölner Kennzeichen erst fünfzehn war.
Die Ampel sprang um und Linus fuhr extra langsam an. Die Streife rauschte durch die Nacht davon und war schnell über die nächste Ampel verschwunden. Linus fuhr, ohne groß zu überlegen, den Schildern nach ins Zentrum der Stadt. Sie passierten den neuen Bahnhof, an dem Simon vor gut zwei Wochen angekommen war. Die Uhr zeigte kurz nach vier. Als seien ein paar Leben vergangen, dachte Simon. Und Edda sprach schließlich aus, was sie alle dachten.
„Wir müssen irgendwo pennen.“
„Simon, du kennst doch Leute hier“, sagte Linus.
Edda ging dazwischen. „Ich hab echt keinen Bock, zu ein paar Verbrechern zu ziehen.“
Die Jungs schauten sich an. Manchmal vergaßen sie, dass Edda ein Mädchen war. Sie hatte natürlich recht. Das Adrenalin, das ihre Körper in der Aufregung der letzen Stunden produziert hatte, ebbte langsam ab. Jetzt bekamen die Sorgen und die negativen Gedanken wieder ihren Raum und es gab keinen Platz mehr für ein neues Abenteuer, keine Zuversicht, es zu bestehen. Eddas Augen fielen zu und sie sank auf ihrem Sitz in sich zusammen.
„Vielleicht war es doch keine so gute Idee, die Handys aus dem Fenster zu werfen“, murmelte sie schläfrig.
„Nummern und Adressen hab ich alle auf der Festplatte“, antwortete Linus und starrte in die Nacht.
Edda hörte nicht mehr hin. Die Verzweiflung darüber, dass sie Marie in den Händen von GENE-SYS hatten zurücklassen müssen, die Frage, ob man Linus’ Hirn wirklich hatte löschen wollen, und die Trauer über den Verlust der verlockenden und exklusiven Welt von GENE-SYS , die sie jetzt wohl mit einem Leben auf der Straße eintauschen mussten, wich einer tiefen, lähmenden Müdigkeit, die Edda ganz auf sich selbst zurückwarf. Sie wusste, dass sie ohne Schlaf nur falsche Entscheidungen treffen würde.
„Wir sollten die erste Nacht in einem geilen Hotel pennen und feiern, dass wir entkommen sind!“ Simon versuchte die Stimmung zu heben. Vergeblich.
„Ich hab noch drei Euro“, sagte Linus. „Ihr?“
Simon drehte sich zu Edda um, doch die war eingeschlafen.
Vom Teufelsberg aus war er ihnen gefolgt. Jetzt beobachtete der hagere Mann, wie Linus seinen Wagen an den Straßenrand hinter einen Imbissstand am Ufer der Spree steuerte. „Clever“, dachte der Hagere. So war der Wagen von der Straße aus kaum zu sehen, bot aber jederzeit eine gute Fluchtmöglichkeit. Er konnte seine Mission für diesen Abend beenden.
„Ich leg mich aufs Ohr“, meldete er über Handy, bog in eine Seitenstraße ab und fuhr davon.
Linus hatte den Motor ausgestellt, öffnete die Wagentür und ging zum Kofferraum, um eine alte Decke herauszuholen. Darunter lag die Apparatur, die er von Olsen mitgenommen hatte. Der Computer, die Kappe mit den vielen Drähten und Sensoren. Damit hatte sich Linus von seiner Angst befreit; für eine gewisse Zeit zumindest. Es beruhigte Linus ein wenig, dieses Gerät in der Hinterhand zu wissen. Er klappte den Kofferraumdeckel des alten Wagens mit einem blechernen Scheppern zu und legte die Decke über Edda, die sich ohne die Augen zu öffnen darin einkuschelte und auf dem Sitz zusammenrollte.
„Familie“, dachte Linus. Er lächelte und stieg wieder ein. Da spürte er den stummen, eifersüchtigen Blick von Simon, der ihm gefolgt war.
„Wenn wir ein paar Stunden geschlafen haben, müssen wir uns überlegen, wie wir an Geld kommen und was wir jetzt machen.“ Linus sprach, ohne Simon anzusehen.
Er drehte den Zündschlüssel. Das Radio ging aus, die Scheinwerfer verdunkelten sich. In der plötzlichen Stille und der fast vollständigen Dunkelheit waren die Jungen mit sich allein. Die Müdigkeit wurde unwiderstehlich. Stärker als die quälende Ungewissheit, ob man sie nach ihrer Flucht vom Teufelsberg verfolgte. Stärker als Linus’ Sorge darüber, ob seine Eltern tatsächlich von
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