Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
an der Mauer bleiben, um nicht das Gleichgewicht nach hinten zu verlieren. Seine Zehen ertasteten schließlich die Fuge zwischen den Mauersteinen auf dem Vorsprung. Er platzierte den Fuß. Belastete ihn. Der Stein hielt. Die rechte Hand löste nun die linke ab und musste einen Teil seines Körpergewichtes auffangen. Mit der linken Hand suchte Simon nach dem nächsten Halt in der Backsteinwand.
„Links. Noch ein bisschen!“, rief Edda. „Da fehlt ein ganzer Stein!“
Sie hatte das klaffende Loch entdeckt. Simons Finger tasteten weiter, fanden die Lücke und fassten zu. Er zog den rechten Fuß nach. Linus’ Taschenlampenlicht aber ruhte weiter auf dem Loch in der Wand. Denn Edda und er starrten auf die glänzenden Augen, die da hervorlugten. Eine Ratte.
Die beiden schauten sich an. Sollten sie es Simon sagen? Linus schüttelte sacht den Kopf. Simon hatte die rechte Hand nun schon in dem Loch platziert und tastete mit der linken weiter voran. Die Ratte schien die Finger von Simon zu beäugen. Ahnungslos setzte der seinen Fuß weiter. Ein großer Schritt. Damit hatte er schon fast die Mitte des Bogens erreicht. Er wollte die rechte Hand aus dem Loch ziehen, spürte etwas.
„Nichts. Nichts Schlimmes!“, rief Edda.
Simons rechte Hand zuckte zurück. Zu schnell. Die übrigen Finger der linken Hand versuchten, sich in der Fuge zu halten. Doch Simons Körper hatte sich schon den winzigen Tick zu weit von der Wand gelöst. Er verlor das Gleichgewicht. Linus hielt starr die Lampe auf ihn. Und Simon sah das weiße Seil hängen. Im Fallen stieß er sich mit letzter Kraft noch von der Wand ab, als wolle er sich in die Fluten stürzen. Doch er erwischte mit beiden Händen das Seil. Seine Beine aber gerieten ins Wasser und wurden mitgerissen. Simon schlug gegen die Wand und nur das Seil verhinderte, dass er weggespült wurde. So groß der Schmerz auch war, der ihn ausgehend von der linken Hand durchfuhr, Simon hielt das Seil fest und zog sich langsam höher. Zentimeter für Zentimeter. Raus aus dem Wasser. Geschafft hing er da.
„Los! Du wirst doch jetzt nicht aufgeben, Weichei!“, schrie Edda ihn an. Tränen liefen über ihr Gesicht. „Beweg deinen Arsch hierher! Verdammter Idiot.“
Simon schüttelte erschöpft den Kopf. Edda ließ das nicht gelten. „Mich fertigmachen und selber aufgeben? Selber Opfer. Und was für eins!“
Simon strampelte, um mit den Füßen die Wand zu erreichen. So wie Linus es geschafft hatte. Seine Zehen erreichten schließlich den Mauervorsprung. Simon zog sich kurz hoch und wickelte das Seil um seinen linken Arm, damit es nicht durch seinen Finger entgleiten und wegrutschen konnte. Dann stemmte er sich mit aller Kraft in das Seil. Der Druck war so groß, dass es sich in seinen Arm schnitt. Simon aber spürte den Schmerz nicht. Er konzentrierte sich nur darauf, seinen Körper im rechten Winkel von der Wand zu halten. Dann bewegte er sich Stück für Stück zum rettenden Ufer.
Von Edda gesichert beugte sich Linus vor und griff nach Simons Hand, die er zu ihm streckte.
„Noch zehn Zentimeter!“, ermunterte Linus, obwohl es sicher noch ein guter halber Meter war, den ihre Hände auseinander waren. Simon schwang zurück.
„Was machst du, Idiot?“, schrie Linus.
„Halt endlich deine blöde Klappe!“, schimpfte Simon und schwang wieder vor. Seine Hand suchte im Dunkel nach Linus’ Fingern. Sie berührten sich. Griffen zu.
„Hab dich!“, lachte Linus. „Hab dich!“
Gemeinsam mit Edda zog er den Freund endlich zu sich heran. Sie nahmen ihn in die Arme, hielten ihn. Heulten Rotz und Wasser und schämten sich nicht dafür. Ewig kauerten sie so. Eng umschlungen, ganz nah beieinander. Sagten kein einziges Wort. Waren nur froh, noch zu leben.
| 2109 |
Was hatte es nur mit diesem verfluchten Teufelsberg auf sich? Gerade mal zehn Tage war es her, da waren Edda, Linus und Simon von hier geflohen; vor GENE-SYS und den Verlockungen einer einzigartigen Zukunft.
Das Lied von Kanye West war verklungen, Duffy sang jetzt von der » Warwick Avenue « und der alte Wagen mit Edda, Simon und Linus jagte die Teufelsseechaussee hinab, durch die Nacht in Richtung Innenstadt.
Je näher sie der Stadt kamen, desto mehr verzogen sich die Nebelfetzen, desto unwirklicher wurden die Eindrücke dessen, was sie gerade erst vor wenigen Minuten in der Zentrale von GENE-SYS erlebt hatten. Als Simon und Edda eröffnet worden war, dass doch nur sie beide für ein Leben als Elite geeignet waren, war das für sie
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