Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
GENE-SYS Gehirn gewaschen worden waren und was mit Marie geschehen würde. Stärker als die Spannung zwischen ihnen, die Ahnung, dass Edda sie nicht nur miteinander verband, sondern auch entzweien könnte. Während die tiefe Dunkelheit ganz langsam von einem neuen Morgen in Berlin verdrängt wurde, fielen auch Linus und Simon in einen unruhigen Schlaf.
„Ich werde meine Großmutter befreien“, klang es klar und unmissverständlich von der Rückbank. „Ja. Das werde ich.“
Edda konnte nicht ahnen, wie schwierig und gefährlich dieses Unterfangen werden würde. Sie ahnte auch nicht, dass sich zur gleichen Zeit in einer kleinen Stadt in Nordhessen seltsame Dinge ereigneten, die die Befreiung von Marie erst möglich machen würden.
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Noch immer lag der Fremde reglos auf ihrem Sofa. Elisabeth fühlte seinen Puls, prüfte die Reaktion der Pupillen, indem sie eins der geschlossenen Lider nach oben schob und mit einer Taschenlampe in die Pupille leuchtete. So etwas verlernt man nicht, wenn man es fast zwanzig Jahre tagtäglich gemacht hat. Es gab eine Reaktion. Die Pupille verengte sich, als das Licht auf sie fiel. Elisabeth wusste, dass sie sich keine Sorgen mehr um diesen Mann machen musste. Er würde überleben. Wie er offenbar schon vieles überlebt hatte. Nachdem sie ihn ausgezogen und in wärmende Decken gehüllt hatte, hatte sie die Narben an seinem Körper gesehen, die von vielen Kämpfen erzählten. Sie hatte seinen Schädel betrachtet, der seltsam deformiert war. Mehr als faustgroß war der Bereich, an dem die Schädeldecke fehlte und nur die Kopfhaut das Gehirn schützte. Sie ließ ihre Finger über diese verletzliche Stelle gleiten. Elisabeth war fasziniert vom Geheimnis dieses Mannes, der ihr vor ein paar Stunden entgegengeschwebt war. Unter Wasser. Wie ein unbekannter Fisch.
Elisabeth tauchte. Seit fast zehn Jahren. Seit ihre Tochter und ihr Mann im Edersee ertrunken waren. Auf dem Weg nach Hause, zu ihr. Sie hatten gelacht und gesungen. Elisabeth nahm das an, weil sie das immer so machten, wenn sie unterwegs waren. Auf den Serpentinen um den See war ihnen ein Wagen entgegengekommen. Er hatte die Kurve geschnitten und den Wagen ihres Mannes und ihrer Tochter von der Straße in den See abgedrängt. Der Unglücksfahrer hatte sich aus dem Staub gemacht und war entkommen. Bis heute wusste Elisabeth nicht, wer für den Tod ihrer Lieben, wer für ihre eigene Versteinerung verantwortlich war.
Der Psychologe der Klinik, in der sie damals arbeitete, hatte ihr seine Hilfe angeboten, aber nichts konnte Elisabeth aus ihrer Trauer helfen. Bis ihr eines Tages auf einem ihrer Spaziergänge zum See die Schnecken auffielen, die sich dort versammelt hatten, wo eine der ihren
zertreten worden war. Da beschloss Elisabeth, dass es helfen könnte, dem Ort des Sterbens nahe zu sein. Einen ganzen Sommer über hatte sie Tauchkurse belegt. Dann war sie zum ersten Mal alleine hinabgeschwebt, dorthin, wo Paul und Jette im Wagen ertrunken waren.
Sie verharrte am Boden des Sees und wartete, ohne zu wissen, worauf. Nichts geschah. Nichts Mystisches. Doch die Stille, die Kühle, die Einsamkeit ließen Elisabeth zu sich kommen. Wie es ihr niemals vorher gelungen war. Seitdem besuchte Elisabeth an jedem ersten Freitagmorgen des Monats diesen Ort unter Wasser. Ihr war bewusst, wie schwierig es für andere war, nachzuvollziehen, dass es das Tauchen war, das sie aus ihrer Trauer geführt hatte, und sie hatte es aufgegeben, davon zu erzählen. Freitag war Familientag. Schluss. Aus. Basta.
Heute war Familientag. Elisabeth hatte die Stille unter Wasser genossen und wollte zurück an die Oberfläche, als ihr ein seltsam längliches Bündel entgegenschwebte. Fast wie ein Riesenkalmar. Sofort erkannte Elisabeth die Füße, die aus einer weißen Folie herausschauten. Elisabeth sah die eisernen Gewichte, die den eingewickelten Menschen nach unten zogen. Noch im Sinken löste Elisabeth die Schnüre, entwand den Körper der Folie und brachte ihn an die Wasseroberfläche. Ein Mann. Leblos hing er in ihren Armen. Sie schaffte ihn ans Ufer und spürte, dass er noch lebte. Sie beatmete ihn. Als ehemalige Krankenschwester wusste sie genau, was zu tun war. Er regte sich. Für einen kurzen Moment öffnete der Mann die Augen, sah sie an.
„No police!“ Er klang kraftlos, aber bestimmt. „No police!“
Elisabeth nickte. Das war ein Versprechen. „No police.“ Die Bitte wunderte sie nicht. So wie der Mann verschnürt und beschwert worden
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