Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
klarer, wohin sie unterwegs waren.
Zwanzig Minuten später stoppte Olsen den Wagen. Da lag die Villa vor ihnen. Olsen beobachtete, wie Dr. Fischer sich in seinem Sitz kleinmachte, als könne ihn der Anblick dieses Hauses bedrohen.
„Get out!“, befahl Olsen. Als Fischer nicht reagierte, stieg Olsen aus und ging um das Auto, um den alten Mann ins Freie zu zerren. Fischer zitterte. Hatte er Olsen so weit zurückgeführt? Bis hierher? Er war damals noch ein Kind gewesen.
„Get out!“, herrschte Olsen ihn an und packte ihn am Revers. Schon stand Dr. Fischer auf dem Bürgersteig. Olsen trat das Tor zum Grundstück auf. Die Villa schien verlassen. Ein Schild am Eingang erklärte, dass das Haus inzwischen als Erholungsheim für Finanzbeamte genutzt wurde.
Zielstrebig bugsierte Olsen Dr. Fischer zu ein paar Stufen, die zu einer Kellertür führten. Ohne zu zögern, brach Olsen auch diese Tür auf. Dann zwang er Dr. Fischer voranzugehen. Als er den ersten Schritt in diesen dunklen Bereich setzte, war Olsen plötzlich wieder der Junge, der er damals gewesen war. Er spürte eine Hand, die ihn führte. Eine Frau. Sie brachte ihn zu einer Scheibe, die den Blick in den Nebenraum freigab. Da lag, festgeschnallt auf einer Trage, sein Vater. Olsen erschrak. Er sah, dass ein junger Arzt etwas in den Arm seines Vaters injizierte. Dr. Fischer.
„Und? Jetzt?“, fragte Fischer. „What’s next?“ Er gab sich beherrscht. Olsen brauchte noch, bis er aus der Erinnerung zurück war.
„Was soll das?“, drängelte Fischer. „Es waren andere Zeiten. Der Kalte Krieg. The Cold War. Es gab Befehle ... Wir haben nur gehorcht.“
Olsen schlug zu und der alte Mann stürzte. Entsetzt stellte er fest, dass seine Nase blutete. In diesem Moment begriff er, dass er Olsen nicht mehr entkommen würde. Es war so weit. Was für eine Ironie, dass er mit seiner letzten Behandlung seinen eigenen Mörder aktiviert hatte. Als Dr. Fischer sich aufrappelte, fingerte er unauffällig in die Innenseite seiner Jacke. Er spürte sie zwischen seinen Fingern. Klein, oval. Erlösend. Endgültig. Seine Hand huschte zum Mund.
„No!“
Entschieden schoss Olsens Hand hervor und packte die alten Finger. Mit einem Griff zwang er Dr. Fischer, die Hand zu öffnen. Da lag die Zyankalikapsel. Olsen roch daran, warf sie auf den Boden und zertrat sie. Dr. Fischer bemühte sich, Haltung zu bewahren. Es gelang ihm nicht.
„Why my father?“
„He was a Russian spy“, behauptete Fischer und berief sich darauf, dass immer noch Krieg herrschte.
„Why me?“
„Wir mussten Ihren Willen brechen. Ihre Empathie ... That’s why you had to watch your daddy. Es waren Befehle. Nur Befehle ...“
Olsen beachtete ihn nicht. Plötzlich fühlte sich Fischer wie Scheherazade, die Geschichte um Geschichte erzählt hatte, um ihr Leben zu retten, und er begann zu plappern. Dass man damals Kinder von Spionen zu so etwas wie emotionslosen Kampfmaschinen machte. So wie es die Russen sicher auch getan hatten. Kinder mit besonderen Fähigkeiten. Sie wurden durch seelischen und körperlichen Schmerz in eine Schizophrenie gezwungen. Das Leid war mit ihren Kinderseelen nicht zu ertragen, also spalteten sie ihre Persönlichkeit, um den Schmerz verschließen zu können.
„Von da ab waren Sie formbar.“ Dr. Fischer wartete ab, was Olsen tun würde.
Ohne den alten Mann anzuschauen, griff Olsen nach seinem Hals, dorthin, wo die Schulter beginnt, und drückte zu. Kraftlos sank Dr. Fischer zusammen. Olsen stand wieder da, wo er damals als Kind gestanden hatte. Immer noch konnte man von dort nach nebenan sehen. Olsen hörte die Schreie seines Vaters. Die teilnahmslose Stimme von Dr. Fischer, der das Experiment leitete und das Sterben seines Vaters kommentierte.
Ohne zu wissen wie, fand sich Olsen kurz darauf auf der Autobahn wieder. Neben ihm auf dem Beifahrersitz lag der reglose alte Arzt. Wie automatisch folgte Olsen den Schildern Richtung Edersee. Dort angekommen fuhr Olsen an den Ort, an dem er selbst versenkt worden war. Hier fand Dr. Fischer nun seine letzte Ruhe. Für Ewigkeiten verzurrt und gut beschwert in einem nassen Grab.
TEIL [02]
| 2201 |
Der Plan zur Befreiung von Eddas Großmutter stand. Linus hatte Tage in Bibliotheken und an seinem Laptop verbracht und sich mit Edda die Nächte um die Ohren geschlagen, um den perfekten Plan zu entwickeln.
„Wir gehen durch die Scheiße“, erklärte er nun feierlich und übertrieben. „Durch die Scheiße zu den Sternen! Wie schon
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