ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
Griff seiner Waffe schloss, und er war nur Zuschauer bei der Aktion, die sein Körper gerade vorbereitete.
Er begriff, dass der skrupellose Söldner, den der greise Dr. Fischer in ihm hatte wiedererwecken wollen, Macht über sein Handeln erlangte. Olsen hatte geglaubt, er hätte der Manipulation seines Hirns durch den unverbesserlichen Kalten Krieger widerstehen können. Doch jetzt, in diesem Moment, wurde er schwach. Sein Widerstand brach, denn er fühlte mit Linus. Es war, als wollte der wiedererweckte böse Teil in ihm diese Chance nutzen. Bevor er jedoch die Waffe aus der Tasche ziehen konnte, stürzte Olsen davon. Durch die nächste Tür. Auf die Toilette.
Die Pistole in der Hand, stand er da, bis er die Spiegel auf beiden Seiten bemerkte, die ihn ins Unendliche vervielfachten. Bitter sah er zu, wie er mit sich kämpfte. Er zwang sich, die Waffe zu senken.
Stille.
Olsen atmete durch. War das wirklich der böse Teil in ihm, der zur Waffe greifen und wahllos schießen wollte? Oder war es vielmehr das Gefühl schrecklicher Ohnmacht? Das Gefühl von Hilflosigkeit? Olsen sog Luft in den unteren Bauch und stieß sie durch die Nase wieder aus. Er wusste einfach nicht, wie er mit seiner Sorge um Linus umgehen sollte. Was er für den Jungen empfand, überforderte ihn. Also setzten die Automatismen ein. Doch sein Kampf mit der unbekannten Emotion schien selbst diese einfachen Automatismen durcheinanderzubringen. Niemals hätte er als Söldner wahllos auf Menschen geschossen. Das wusste Olsen. Er hatte Angst, Linus zu verlieren, und der dadurch ausgelöste Schmerz hebelte alle Ratio aus.
Warum nur hatte er die Kinder in den Teufelsberg einsteigen lassen? Wie hatte er nur zulassen können, dass sie sich bewaffneten? Mit dem Zeigefinger entsicherte Olsen die Arretierung für das Magazin seiner Waffe, nahm es heraus und öffnete das Fenster. Noch immer fiel der Schnee in dicken Flocken aus dem grauen Berliner Himmel. Olsen setzte an, das Magazin mit der restlichen Munition hinauszuschleudern. Er schaffte es nicht. Die Warnungen in seinem Hirn waren zu laut, zu entschieden. Die Waffe war ein Schutz.
Die Waffe war die Chance gewesen, Linus zu retten. Nur wenige Sekunden war Olsen zu spät gekommen. Wäre er nur ein wenig schneller in die Tunnel gelangt, hätte er die Schüsse auf Linus verhindern können. Aber er hatte zuerst die Verfolger auf dem Teufelsberg ausschalten müssen. Dazu hatte er die bewaffneten Männer auf seine Spur gelockt, um Linus, Edda und Simon die Chance zu geben, unerkannt in die Zentrale von gene-sys einzudringen. Wie ferngesteuert hatte Olsen gehandelt. Einmal mehr war es ihm so vorgekommen, als wäre alles, was er tat, in sein Hirn einprogrammiert und er müsse es nur abrufen.
Durch die verschneite Nacht war er zum Gipfel des Teufelsbergs geeilt; so schnell, dass die Verfolger sicher sein konnten, der richtigen Spur zu folgen. Olsens Plan war, die Gegner auf „Verfolgung“ zu „programmieren“. Dazu war es nötig, ihnen zu signalisieren, er sei auf der Flucht. Er musste den Jagdinstinkt der Verfolger so sehr steigern, dass er all ihre Vernunft und angelernte Vorsicht überlagerte. Olsen wusste, dass sie mit dieser Jagdtrieb-Konditionierung Fehler machen würden. Alles, was nicht in das Bild des Flüchtigen passte, würde von ihnen ausgeblendet werden. Und da lag seine einzige Chance.
Er hatte sie genutzt. Sauber. Präzise. Und ohne Skrupel.
Warm spülte das Wasser über Olsens Hände, floss als Spirale in den Ausguss und nahm hellrot das Blut von Linus mit sich. Olsen schaute zu, wie das Rot zu klarem Wasser wurde, und betätigte schließlich den Seifenspender. Dann wusch er die letzten Reste von Linus’ Blut von seinen Händen. Der Trockner rauschte heiser. Olsen hielt die Hände in den Strom aus heißer Luft. Er hatte sich wieder im Griff und blickte in den Spiegel. Müde Augen sahen ihn an. Ein altes Gesicht. Es erinnerte ihn an den Mann, mit dem er zwölf Jahre seines Lebens verbracht und den er dennoch nie kennengelernt hatte. Sein Vater.
„Ein Schatten seiner selbst“, hatten die Menschen, die Olsens Vater noch aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg kannten, immer wieder über ihn gesagt. Als Kommunist hatte er 1945 zu den Siegern gehört, doch seinen Kampf gegen das Kapital hatte er nie beendet und verlor ihn schließlich im Angesicht seines Sohnes; unter Drogen gesetzt und festgeschnallt auf einer schmutzigen Liege in einem schalldichten Keller einer Foltervilla der CIA. Das
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